Birgit Abele - Heilpraktikerin für Psychotherapie
„Das Ungeheure, das einem Menschen eingeräumt ist, ist die Wahl, die Freiheit.“
Søren Kierkegaard
Ein schwer erkennbares Phänomen
Spiritueller, geistlicher oder religiöser Missbrauch – alle drei Begriffe beschreiben das gleiche Phänomen. Die damit verbundene Problematik ist oft nur schwer erkennbar, denn sie findet im intimsten Bereich des betroffenen Menschen statt: seiner ganz persönlichen Beziehung zu Gott und zu sich selbst. Geistlich missbrauchende Personen kann es im persönlichen oder beruflichen Umfeld, im Gemeindekontext, bei Exerzitien, in der geistlichen Einzelbegleitung oder in religiösen Gemeinschaften und Gruppierungen geben.
Ich sage Dir, was Gott von Dir will
Manche Menschen glauben, eine besondere Erwählung durch Gott zu haben und geben vor, dessen Wille für andere zu erkennen. Dies sehen sie als Legitimation dafür, Macht über Personen auszuüben und deren spirituelle Autonomie und persönliche Freiheit einzuschränken. Religiöse Werte, Lehren und Begriffe setzen sie manipulativ ein, um Zugriff auf die geistliche Intimsphäre des Individuums zu erlangen und die Steuerung zu übernehmen. Dadurch schaffen sie Abhängigkeiten und trennen andere von ihrem inneren Selbst.
Was Du fühlst, ist nicht wichtig
Haben solche Menschen Leitungspositionen inne, können ganze Gruppen oder Gemeinschaften in destruktive Dynamiken hineingeraten. Die zuständige Person setzt Mitglieder unter einen enormen Leistungsdruck und vermittelt ihnen das Gefühl, nie gut genug zu sein. Dies führt bei den Anvertrauten zu ständigen Schuldgefühlen. Sie erfahren immer mehr, dass das, was sie selbst fühlen, was sie selbst wahrnehmen, unwichtig und scheinbar falsch ist. So werden sie zur Marionette und die Verantwortlichen ziehen an den Fäden.
Die Betroffenen verlieren zunehmend die Fähigkeit, sich selbst vertrauen zu können, weil ihnen das systematisch ausgetrieben wird. Etwa wenn sie erleben, dass sie nur gut sind, wenn sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. Dieser Druck macht sie in ihrem Erleben und in ihrer Sichtweise ganz eng und versetzt sie in einen Zustand der Angst.
Höhere Ziele als der Rest der Welt
Je länger Personen der Manipulation ausgesetzt sind, umso mehr kann sich das wie eine Art Gehirnwäsche auswirken. Die eigenen Gedanken werden umgeformt. Die Schutzbefohlenen lernen: "Es geht hier nicht um mich. Meine Bedürfnisse spielen keine Rolle." Und das hat einen zerstörerischen Effekt.
Auch kann es unter den Mitgliedern zu Druck und Sozialkontrolle kommen. Die Gruppe ist überzeugt, höhere Ziele zu verfolgen als der Rest der Welt. Kritisches Hinterfragen wird zum Problem. Es herrscht ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. Alles wird spiritualisiert und wer da nicht mitkommt, gerät in die Versagerrolle. Betroffene müssen dann erkennen, dass ihre Bereitschaft zu einem Leben mit Jesus ausgenutzt wurde. Oft fühlen sie sich von der Gemeinschaft, von der sie sich distanzieren möchten, fallen gelassen. Es kann ein sehr beschwerlicher Weg sein, aus diesem Zustand herauszukommen.
Welche seelischen Folgen hat spiritueller Missbrauch?
Beständige psychische Manipulation kann gravierende seelische Folgen haben:
- Innere Zerrissenheit und Verwirrung
- Gefühle wie Schuld, Scham, Hilflosigkeit, Trauer, Wut oder Angst
- Ziel- und Sinnlosigkeit sowie ein geringes Selbstwertgefühl
- Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten
- Vegetative Erschöpfung
- Psychosomatische Beschwerden
- Verlust der eigenen Identität
- Einschränkung der Leistungsfähigkeit
- Retraumatisierung, wenn kindliche Bindungsverletzungen vorliegen
- Unwillkürliches Erinnern und Wiedererleben schmerzhafter Ereignisse
- Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die belastende Erinnerungen wachrufen könnten
- Albträume
- Depression
- Suizidgedanken bis hin zum Suizid
Aussagen von Betroffenen
„Der Priester sagte mir, ich habe eine Berufung für das gottgeweihte Leben in der Welt. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Mein Inneres sträubte sich vehement dagegen. Doch alle sagten, dieser Priester sei besonders begnadet und könne erkennen, zu was man berufen sei. Ich wollte auf jeden Fall Gottes Willen erfüllen, spürte aber, diesen Weg nicht gehen zu können. Das rief in mir tiefe Verwirrung und auch Verzweiflung hervor. Zunehmend dachte ich, mit mir stimme etwas nicht. Erst durch Gespräche mit einer Freundin und einem anderen Priester wagte ich, mich innerlich von meiner angeblichen „Bestimmung“ zu lösen. Ich erkannte meine Berufung für die Ehe und bin heute glücklich verheiratet.“
Familienmutter
„Neben meiner Berufstätigkeit in Vollzeit gab es viele gemeinschaftliche und apostolische Verpflichtungen. Daher hatte ich zu wenig Zeit, mich zu erholen und war zunehmend erschöpft. Schließlich landete ich in einem Burnout. Man schickte mich zu einem Psychiater, der mich mittels eines Medikamentes wieder funktionstüchtig machen sollte, aber das funktionierte so nicht. Die Gespräche mit der Leiterin des Hauses, die gleichzeitig unsere Seelenführerin war, fürchtete ich nun immer mehr. Denn nach diesen Gesprächen hatte ich in der Regel noch mehr Druck und wusste, dass ich ihren Erwartungen nicht genügte. Sie meinte, ich müsse mich nur mehr zusammennehmen. Fast immer brach ich irgendwann in Tränen aus, dann erst ließ sie mich in Frieden.“
Lehrerin
„Meine Mitbrüder und -schwestern haben sicher gespürt, dass ich nicht hinter allem stand, was von den Oberen gesagt und entschieden wurde. Daher brachen sie den Kontakt zu mir ab oder reduzierten ihn auf das Nötigste. In all den Jahren habe ich mich sehr oft isoliert und ausgegrenzt erlebt. Da Kontakte nach außen unerwünscht waren, gab es für mich keinen Ausweg aus dieser Situation. In der ersten Zeit hat mich das wütend gemacht, später empfand ich Mitleid mit ihnen, da sie nach meiner Überzeugung unter einem kollektiven Zwang standen. Es gab niemanden, dem ich mich in dieser Zeit anvertrauen konnte. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich Außenstehende, ob Freunde oder Seelsorger, mit dem Thema überfordern würde. Sogar nach meinem Austritt erlebte ich teilweise offene Ablehnung wegen meines Schritts weg von der Gemeinschaft. Das hat mich lange belastet und das Wirken und Arbeiten erschwert. “
Priester