Blog #4: Vernachlässigung im Namen Gottes

„Nichts verdeckt Gottes Angesicht so wie Religion.“ Martin Buber

Geht es Ihnen beim Lesen dieses Zitats ähnlich wie mir? Ich musste erst einmal Atem holen und es noch ein paar Mal lesen. Sollte Religion nicht Gottes Angesicht sichtbar machen? Gottes Liebe offenbaren? Wie kommt dieser jüdische Philosoph zu so einer erschütternden Aussage?

Ich denke, hier sind wir schon mitten im Thema „spiritueller Missbrauch“: Wo Abhängigkeit entsteht, Zwang ausgeübt und die persönliche Freiheit nicht geachtet wird, ist nicht Gott am Werk, denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17).

Die Theologin Doris Reisinger beschreibt in ihrem Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ drei Formen geistlichen Missbrauchs: spirituelle Vernachlässigung, spirituelle Manipulation und spirituelle Gewalt. In meinem heutigen Blogartikel gehe ich näher auf die Form der spirituellen Vernachlässigung ein.

Jeder Mensch hat seine eigene Spiritualität

Jeder Mensch entwickelt im Laufe des Lebens seine eigene Spiritualität. Diese hilft ihm, Sinn in den Ereignissen des Lebens zu finden und belastende Erfahrungen zu bewältigen. Christliche Spiritualität bildet sich in allen Bereichen des Menschseins ab: der Beziehung zu sich selbst, zum eigenen Leben, zur Welt, den Mitmenschen und schließlich zu Gott.

Werden Menschen in ihren spirituellen Bedürfnissen nicht wahr- oder ernstgenommen beziehungsweise in ihrer geistlichen Freiheit und Selbstwirksamkeit nicht unterstützt, sprechen wir von spiritueller Vernachlässigung. Diese ist im weiten Sinn als eine Form spirituellen Missbrauchs zu verstehen.

Spirituelle Vernachlässigung im Elternhaus

Spirituelle Vernachlässigung beginnt möglicherweise schon im Elternhaus, etwa wenn Eltern ihre Kinder nicht dabei unterstützen, ihren eigenen Weg zu finden und ihre Persönlichkeit, Fähigkeiten und Talente gut zu entfalten.

Erfahren Kinder und Jugendliche in ihrem Suchen und Ringen nach dem, was ihrem Leben Halt und Sinn gibt, wenig Beistand, sondern werden vielleicht in eine von den Eltern vorgegebene Richtung gedrängt, wird es für Heranwachsende schwierig, eine gesunde spirituelle Autonomie zu entwickeln.

Eine religiös begründete Verbots- und Schuldmoral kann dazu führen, dass Menschen ihr Leben lang kein gesundes Verhältnis zu sich selbst entwickeln und dadurch falsche Lebensentscheidungen treffen.

Sie haben keine eigene Antwort auf ihre Fragen, keinen Zugang zu ihren spirituellen Ressourcen und sind spirituell „nicht handlungsfähig“. Dies kann dann auch zum Einfallstor für andere Formen spirituellen Missbrauchs werden.

Spirituelle Vernachlässigung durch Seelsorger

Gerade in Krisen- und Umbruchssituationen machen sich Menschen auf den Weg, um Antworten auf ihre spirituellen Fragen zu suchen. Sie wenden sich dabei an einen Seelsorger/eine Seelsorgerin und hoffen, Sinn und Unterstützung in ihren Schwierigkeiten zu finden. Geraten sie an einen spirituell missbräuchlichen Seelsorger wird dieser die eigentlichen Bedürfnisse der Person ignorieren. Stattdessen gibt er einen gut gemeinten Ratschlag, deutet die beschriebene Situation nach seinen Vorstellungen oder macht ein einzelnes spirituelles Angebot, zum Beispiel den Rosenkranz zu beten. Ob das Angebot der hilfesuchenden Person guttut oder ihr wirklich weiterhilft, spielt für ihn keine Rolle. Er selbst hält sich ja für kompetent und meint zu wissen, was für den anderen gut ist oder was Gott von der Person möchte.

Beispielsweise berichtet eine junge Mutter, sie habe nach einer Totgeburt Hilfe bei ihrem Heimatpfarrer gesucht. Anstatt auf ihre Situation einzugehen, sagte er ihr nur, sie solle dankbar sein, dass Sie bereits ein Kind habe. Dies hat die Frau sehr verletzt, und sie fühlte sich in ihrer Not noch einsamer und trauriger.

Spirituelle Vernachlässigung heißt hier: Ich bekomme nicht das, was ich brauche. Ich bekomme keine Antwort auf meine Fragen. Ich werde nicht als Subjekt mit eigenen spirituellen Bedürfnissen gesehen. Wo etwas sein sollte, ist nichts.

Spirituelle Vernachlässigung in missbräuchlichen Gemeinschaften

Einige neue geistliche Gemeinschaften haben die Tendenz, ihren Mitgliedern eine einzige spirituelle Deutung ihres Lebens zu vermitteln. Diese ist nicht selten toxisch, da sie verlangt, die eigenen Bedürfnisse, Neigungen und Vorstellungen aufzugeben, um sich bedingungslos unterzuordnen. Das, was das Menschsein ausmacht, die eigenen Gefühle und die eigene Wahrnehmung, sollen bewusst unterdrückt werden, um den Anweisungen der Oberen blind zu folgen.

Zu dem kommen Lese- und Denkverbote, die eine freie Entfaltung der eigenen Spiritualität unterbinden. Dadurch bleiben Mitglieder mit ihren tiefen Nöten oft allein.

Erleben sie die einseitige Spiritualität der Gemeinschaft als nicht hilfreich, suchen sie die Schuld nicht selten bei sich selbst und denken, sie „entsprächen der Gnade Gottes“ nicht. Dabei liegt es nicht an ihrem mangelnden Bemühen, sondern an der Unmöglichkeit, eigene spirituelle Ressourcen zu entwickeln, die wirklich tragen und helfen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern.

Wenn auf alle Probleme die gleichen „Lösungsstrategien“ angepriesen werden, die darin bestehen, mehr auf sich selbst zu verzichten, mehr zu beten und mehr auf Gott zu vertrauen, wird dies dem Menschen nicht gerecht.

Das dualistische Missverständnis

Solche Gemeinschaften unterliegen einem grundlegenden Missverständnis: dem Gegeneinander des Göttlichen und des Menschlichen. Menschliche Hilfe und Lösungsstrategien werden abgewertet, ja im schlimmsten Fall als Hindernis für das Wirken Gottes dargestellt. Dies widerspricht jeder authentisch-christlichen Mystik, die immer alle Dimensionen des Menschseins, also Leib, Seele und Geist, mit einbezieht.

Wird der Fokus zu einseitig auf das Geistliche gelegt, kommt der Mensch zu kurz, das Zusammenleben wird dann „unmenschlich“. Die Abwertung des Menschlichen ist letztlich eine Missachtung des Schöpfers, der den Menschen nicht nur als Geist, sondern als ganzheitliches Wesen mit Körper, Gefühlen und Bedürfnissen ausgestattet hat.

Nur wenn der Mensch in seinem Ganz-Sein berücksichtigt wird und sich entfalten darf, wird ihm alles zuteil, was er zum Leben braucht. Dies sollte Ziel einer ganzheitlichen, gelungenen Seelsorge sein.

 

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