Blog #7: Trauma nach geistlichem Missbrauch

Vom Lebenstraum zum Albtraum

Zunächst schien mein Glück wolkenlos: Die liebevollen, fröhlichen Schwestern, die tiefe Spiritualität, die wunderschönen Liturgien, das Zusammengehörigkeitsgefühl, ein tiefer Sinn für mein Leben. Ich war angekommen, dachte ich. Mein Lebenstraum verwirklichte sich, scheinbar. Die zunehmende innere Leere und Traurigkeit mussten an mir liegen, denn ich hatte ja alles, was ich brauchte, redete ich mir ein. Die Demütigungen, der aufgezwungene Verzicht, die kaum erreichbaren spirituellen Ziele – alles Wege zur Heiligkeit, wurde uns gesagt. Erst ein Jahr nach meinem Austritt wurde mir bewusst, dass meine nächtlichen Albträume auf eine Traumatisierung hindeuteten. Wie konnte das passieren?

Eine Frage der Ressourcen

Durchlebt eine erwachsene Person besonders belastende Situationen, stehen ihr im Normalfall zahlreiche Möglichkeiten der Bewältigung offen. Sie spricht mit Freunden darüber, die ihr Mitgefühl und Unterstützung zukommen lassen. Ihr steht es zu, für ihre Rechte zu kämpfen oder die unheilvollen Umstände zu meiden. Sie kann zahlreiche Hilfsangebote wie z. B. psychologische Beratung, seelsorgliche oder therapeutische Begleitung in Anspruch nehmen. Hier erhält sie professionellen Beistand und kann einen neuen Blick auf das Geschehen finden. Das hilft ihr, die Belastung zu bewältigen und in ihr Leben zu integrieren.

Anders verhält es sich in einem geistlich missbräuchlichen System. Hilfe von außen soll dort im Normalfall nicht in Anspruch genommen werden, da einem die Gemeinschaft ja „alles bietet, was man braucht.“ Werden doch externe Personen hinzugezogen, müssen diese das spirituelle Gedankengut der Kommunität teilen und agieren nicht selten auch missbräuchlich. Mit anderen darf nicht über Persönliches gesprochen werden, auch nicht innerhalb der Vereinigung. Als einzige AnsprechpartnerInnen stehen die Oberen zur Verfügung, von denen jedoch das destruktive Verhalten ausgeht. Die betroffene Person befindet sich in einer misslichen Lage.

Gefangen im System

Sie macht wiederholt Erfahrungen belastender, schädlicher und bedrohender Art. Durch das Gehorsamsversprechen beziehungsweise die hierarchischen Unterschiede steht es der Person nicht zu, sich den Verantwortlichen zu widersetzen. Ein Widerspruch würde als Auflehnung gegen Gott und mangelnde Demut gewertet. Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen wäre ein Weggang aus dem missbräuchlichen Kontext, was aber als Verlust der Gnade Gottes und der persönlichen Erwählung gelten würde. Die Person kann sich also weder durch Kampf noch durch Flucht vor dem grenzüberschreitenden Verhalten schützen. Dementsprechend ertragen Betroffene die schädigende Behandlung über eine lange Zeit, oft mit der spirituellen Begründung, diese sei für ihre Heiligung notwendig.

Kumulative Traumatisierung

Wie entsteht nun ein Trauma? Ein einzelnes Ereignis genügt nicht, um einer Person nachhaltigen Schaden zuzufügen. Reihen sich aber ungute Erfahrungen aneinander, kommt es zu einer sogenannten kumulativen Traumatisierung. Die eigenen Ressourcen reichen dann nicht mehr aus, um mit dem erlebten emotionalen Stress umzugehen. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht macht sich breit. Auch das Miterleben, wie andere Personen Opfer schädigenden Verhaltens werden, kann traumatisierend wirken und wird in missbräuchlichen Systemen nicht selten zur Einschüchterung eingesetzt.

Viele Menschen entwickeln infolge einer Traumatisierung chronische Folgestörungen. Hierzu zählt die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Trauma-Überlebende religiösen Missbrauchs reagieren sehr oft nicht mit dem Vollbild der PTBS, sondern entwickeln nur einzelne Symptome. Was bedeutet das konkret?

Das Wiedererleben des Traumas (Intrusion)

Die Person erlebt die traumatische Situation immer wieder durch ungewollt wiederkehrende Erinnerungen, Bilder oder sonstige lebhafte Eindrücke. Damit verbundene schmerzhafte Fragen und Gedanken sowie belastende emotionale Zustände werden reaktiviert. Dies kann mit einer vegetativen Überregung, die sich in Herzrasen, Zittern, Schweißausbrüchen bis hin zu Panikattacken zeigt, verbunden sein. Bei diesen sogenannten Intrusionen kann die Umgebung noch eingeschränkt wahrgenommen werden. Bei einem Flashback hingegen wird das vergangene Erlebnis so stark mit allen Sinneseindrücken durchlebt, dass die Person zeitweise die Realitätskontrolle verliert.

Bei Albträumen kommt es nachts im Schlaf zu einem nochmaligen Durchleben der traumatischen Erfahrung. Die Psyche versucht diese dadurch zu verarbeiten. Wiederholen sich immer wieder die gleichen Träume, signalisiert das innere System, dass es mit dem Bewältigungsprozess überfordert ist. Das Ereignis ist zu groß, zu schmerzhaft, als dass die normale Verarbeitung im Traum ausreichen würde. Es will aktiv angeschaut und bearbeitet werden.

Die Vermeidung (Repression)

Ein zweites Merkmal der posttraumatischen Belastungsstörung stellt das Vermeidungsverhalten dar. Dieses äußert sich zum einen in einer emotionalen Taubheit, solchermaßen, dass die eigenen Gefühle sich mehr und mehr gleich anfühlen. Auf lange Sicht führt dies zu einer Entfremdung anderen Menschen gegenüber und infolgedessen zu Isolation und Rückzug. Außerdem versuchen Betroffene, Situationen zu vermeiden, die an das Trauma erinnern, was mit dem Ausscheiden aus christlichen Gruppen verbunden sein kann. Nicht selten besteht einerseits der Wunsch, wieder Teil einer religiösen Gruppierung zu sein, und andererseits der Wunsch, genug Abstand zu haben, um nicht von auftauchenden Gedanken und Gefühlen überflutet zu werden. Eine schwer zu ertragende Ambivalenz, die den Eindruck vermittelt, nirgendwo mehr dazuzugehören.

Die Übererregung (Hyperarousal)

Traumatisierung kann zu einem Zustand erhöhter Wachheit und Erregbarkeit führen. Dabei befindet sich das autonome Nervensystem in permanenter Alarmbereitschaft und spricht sowohl früher als auch länger auf Belastungen an. Muskelverspannungen, erhöhter Blutdruck und schneller Herzschlag gehen möglicherweise damit einher. Betroffene leiden unter Schlafstörungen, können schlecht abschalten und herunterfahren, sind zudem oft reizbar und neigen zu Wutausbrüchen.

Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS)

Neben den oben genannten klassischen Traumasymptomen kann es bei lang andauernden, wiederholten Traumata, wie dies bei einer Mitgliedschaft in religiös missbräuchlichen Systemen möglicherweise der Fall ist, zu einer komplexen Traumatisierung kommen. Die Symptomatik der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung geht dabei weit über die der PTBS hinaus und zeichnet sich in etwa durch folgende Merkmale aus:

  • Störungen der Affektregulation: leichte Erregbarkeit, chronisch depressive Verstimmung, selbstverletzendes Verhalten, erhöhte Suizidneigung, aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut
  • Bewusstseinsveränderungen: zeitweiser Verlust oder Beeinträchtigung des Persönlichkeitsbewusstseins, Abspaltung von Erinnerungen oder gar ganzer Persönlichkeitsanteile
  • Gestörte Selbstwahrnehmung: chronische Scham- und Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Gefühl der fehlenden Selbstwirksamkeit, Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative, Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden
  • Körperliche Beschwerden, obwohl häufig keine klare organische Ursache gefunden werden kann: Psychosomatische oder offensichtliche Erkrankungen wie Verdauungsstörungen, chronische Schmerzen oder Symptome an Herz und Lunge
  • gestörte Wahrnehmung des Täters: den Täter idealisieren oder für allmächtig halten, paradoxe Dankbarkeit, Übernahme des Überzeugungssystems des Täters, Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung
  • Tendenz, sich im späteren Leben erneut traumatischen Erfahrungen auszusetzen
  • Beziehungsprobleme: Isolation und Rückzug, gestörte Intimbeziehungen, andauernde Suche nach einem Retter, anhaltendes Misstrauen, wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
  • Veränderung im Bedeutungssystem: Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Verlust bisheriger Lebensüberzeugungen und Glaubensinhalte

Folgeverletzungen nach dem Ausstieg

Hat die Person nach einem langen Leidensweg endlich den Ausstieg geschafft, sieht sie sich nicht selten erneut verletzenden Reaktionen aus ihrer Umwelt ausgeliefert: Ihnen wird nicht geglaubt, ihre Erfahrungen werden aufgrund mangelnden Wissens verharmlost oder falsch eingeschätzt. Manchmal wird ihnen selbst die Schuld an dem Geschehenen zugeschrieben. Wenden sie sich an die Öffentlichkeit, kann es zu Drohungen oder gerichtlichen Klagen seitens ihrer Gemeinschaft kommen. Das alles kann retraumatisierend wirken und Betroffene abermals aus dem mühevoll erworbenen inneren Gleichgewicht werfen.

Und wenn ich selbst betroffen bin?

Falls Sie bei sich Merkmale einer Traumatisierung feststellen, sollten Sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Suchen Sie sich eine Person, die traumasensibel arbeitet und im besten Fall über Dynamiken und Folgen geistlichen Missbrauchs Bescheid weiß. Wichtig ist, dass Sie sich bei der Person als ganzer Mensch gesehen fühlen und von ihr in ihrer persönlichen Freiheit, auch was ihren religiösen Weg betrifft, respektiert werden. In einer gelungenen therapeutischen Begleitung wird eine tiefe Heilung der erlittenen Verwundungen möglich, selbst wenn diese schon lange Zeit zurückliegen.

 

Quellen:

Tempelmann, Inge (2015): Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt, SCM-Verlag

Butenkemper, Stephanie (2023): Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch erkennen, verhindern und heilen. Herder Verlag.

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