Blog #6: Spiritueller Missbrauch ist eine Gewalttat (KDFB)

Handelt es sich bei geistlichem Missbrauch um eine Gewalttat im strafrechtlichen Sinn? Leider (noch) nicht. Wenn man sich allerdings die Definition von Gewalt der WHO anschaut, trifft diese durchaus auch auf spirituellen Missbrauch zu: „Gewalt ist der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“

Die Theologin Doris Reisinger betont, spiritueller Missbrauch habe häufig ebenso gravierende Folgen wie sexuelle Übergriffe. Sie prägte den Begriff der „spirituellen Gewalt“. Wie sich diese Form der Machtausübung darstellt und welche Folgen sie für die Betroffenen hat, werde ich in diesem Blogartikel näher beleuchten.

Spirituelle Gewalt – die dritte Form geistlichen Missbrauchs

Damit eine Person spirituelle Gewalt an sich geschehen lässt, muss sie zuerst spirituell vernachlässigt und manipuliert worden sein. Sie glaubt, der geistliche Führer habe immer Recht und Gott spreche durch ihn. Außerdem meint sie, keine eigenen Ansprüche und Bedürfnisse haben zu dürfen. Aus diesem Grund wird sie sich nicht verteidigen und womöglich den Täter rechtfertigen, scheint er doch eine „gute Absicht“ zu haben. Trotzdem leidet sie innerlich und spürt, dass ihr Unrecht widerfährt.

Was Schläge oder Vergewaltigung in einer toxischen Beziehung sind, ist spirituelle Gewalt im geistlichen Kontext. Man könnte durchaus den Begriff der „geistlichen Vergewaltigung“ etablieren. Diese geschieht unter einem frommen Deckmantel, der vorgibt, die Person „über sich selbst hinauszuführen“ oder „Gott näherzubringen“.

Spirituelle Gewalt geschieht vorwiegend in geschlossenen Systemen, also Orden oder Gemeinschaften, in denen eine starke Abhängigkeit von den Oberen vorliegt. Besonders groß ist die Gefahr, wenn das sogenannte „forum externum“, also die äußere Leitung, und das „forum internum“, die geistliche Begleitung, von einer einzigen Person ausgeübt wird, was kirchenrechtlich nicht erlaubt ist. Häufig handelt es sich dabei um eine charismatische Gründerfigur. Wie genau sich spirituelle Gewalt zeigt, werde ich im Folgenden erläutern.

Aufgezwungener Verzicht

Jedes geistliche Leben kennt den Verzicht. Gottgeweihte Personen sollen durch die drei evangelischen Räte - Armut, Ehelosigkeit und eine reife Form des Gehorsams - in die innere Freiheit gelangen, mit dem Ziel, eine innigere Beziehung mit Gott zu leben. Bei geistlichem Missbrauch geschieht aber genau das Gegenteil: Der Person wird ein Verzicht aufgezwungen, der keinen Sinn macht und sie von sich selbst und damit von Gott trennt. Denn Gott kann sie nur begegnen, wenn sie in Kontakt mit ihrem innersten Selbst ist.

Wenn Obere von ihren Untergebenen verlangen, etwa auf eine Berufsausbildung oder ein angemessenes Studium zu verzichten, haben sie nicht die Entfaltung der Person, sondern ihre eigenen Interessen im Blick, indem sie die anderen kleinhalten. Besteht ein Verbot, eine eigene Form der Spiritualität und eigenständiges Denken zu entwickeln, indem keine entsprechenden Bücher gelesen oder Vorträge gehört werden dürfen, ist dies ein massiver Eingriff in die spirituelle Selbstbestimmung und wird der Würde der Person nicht gerecht. Das gleiche gilt für die Anweisung, keine Tagesnachrichten zu verfolgen oder sich eine eigene politische Meinung zu bilden.

Spirituelle Richtlinien wie beispielsweise die Maßgabe, über eigene Leiden zu schweigen oder sich bei unberechtigten Beschuldigungen nicht zu verteidigen, können traumatisierend wirken. Ebenso, wenn wichtige Entscheidungen über die Person getroffen werden, ohne vorher mit ihr zu sprechen und ihre Bedürfnisse und ihre Meinung zu erfragen.

Emotionale Gewalt in Form von Erniedrigungen, Schuldzuweisungen und Beschämungen gehen häufig mit spiritueller Gewalt einher, mit dem Argument, den Stolz der Person zu brechen und sie wahrhaft demütig zu machen.

Erzwungene Trennungen und forcierte Absonderung

Gemeinschaften haben ihre eigenen Regeln, was Kontakte nach innen und außen betrifft. Diese sind klar formuliert und den Mitgliedern bekannt. Eine Einschränkung der Kommunikation nach außen, wie dies vor allem in kontemplativen Klöstern der Fall ist, soll dazu dienen, sich im Herzen ganz auf Gott auszurichten und sich nicht durch weltliche Beziehungen zu sehr zu zerstreuen. Das Mitglied entscheidet sich frei und bewusst für diese Art des Verzichts, und auch die Angehörigen wissen um die Bedingungen der Kontaktaufnahme.

In spirituell missbräuchlichen Gemeinschaften verhält es sich anders. Meist entscheiden die Oberen willkürlich, ob Personen an bestimmten Anlässen wie Beerdigungen, Hochzeiten oder Familienfeiern teilnehmen dürfen oder nicht. Dies kann von Fall zu Fall verschieden sein. Der Wille der Leitung ist die einzige Richtschnur, was zu Ungerechtigkeiten führt. Ich kenne eine Schwester, die ihren leiblichen Bruder vor seinem Sterben nicht mehr sehen durfte, obwohl die beiden eine enge Beziehung hatten und dies ohne großen Aufwand möglich gewesen wäre. Die betroffene Schwester leidet bis heute darunter.

Bei seelischen Nöten sollen sich Schwestern und Brüder mehrheitlich nur an die Oberen der Gemeinschaft wenden und keine Hilfe außerhalb der Gemeinschaft suchen. Dies führt dazu, dass sie bei Problemen mit der Leitung oder der Lehre der Kommunität keine Ansprechpartner haben. Freundschaften nach außen dürfen im Normalfall nicht gepflegt werden, auch persönliche Gespräche innerhalb der Mitglieder werden unterbunden. Überwiegend werden geistliche Begleitung und Exerzitien auf die eigene Gemeinschaft beschränkt. Solche Vorgaben fördern die Abhängigkeit von der Leitung und ermöglichen absolute Kontrolle über die Einzelnen.

Gewaltsame Ausbeutung von Arbeitskraft

Verantwortlich handelnde Obere achten auf die persönlichen Fähigkeiten und Talente ihrer Mitglieder, wenn sie ihnen Aufgaben innerhalb oder auch außerhalb der Gemeinschaft zuteilen. Die einzelne Person steht dabei genauso im Fokus wie das Wohl der Kommunität.

Im missbräuchlichen Kontext gerät hingegen die einzelne Person aus dem Blick. Die Gemeinschaft steht über dem Individuum. Man könnte dies mit dem drastischen Motto aus der Nazi-Zeit veranschaulichen, das besagt: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Mitglieder werden viele Male weit unter ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten eingesetzt, oder ihnen werden Tätigkeiten zugeordnet, für die sie keinerlei Qualifikation haben. Dadurch begegnen sie der Gefahr einer Überforderung und womöglich eines Burnouts. Gleichzeitig wird ihre Arbeitskraft für die Zwecke der Gemeinschaft ausgebeutet und nicht auf die persönliche Belastbarkeit und Grenzen geachtet. Erholungszeiten stehen nicht ausreichend zur Verfügung, Freizeit gibt es so gut wie gar nicht. Nicht selten endet dies in Zusammenbrüchen.

In manchen neuen geistlichen Gemeinschaften wird zudem keine angemessene Altersversorgung gewährt, ja im Extremfall gar nichts in die Rentenkasse einbezahlt. Dies schafft eine intensive Form von Angewiesenheit, die einen Austritt nahezu unmöglich macht, da sich die betroffene Person dem finanziellen Ruin und der Altersarmut ausgesetzt sieht. Nicht nur aus moralischer Sicht, sondern auch aus spiritueller, halte ich dies für höchst bedenklich und verantwortungslos.

Gewaltsame ärztliche und geistliche „Behandlungen“

Brechen Mitglieder unter der Last des spirituellen Missbrauchs zusammen, greifen Obere auf Maßnahmen zurück, die ihrem eigenen Konzept entsprechen. Wird Psychologie als gefährlich angesehen, kann es sein, dass therapeutische Hilfe nicht in Anspruch genommen darf, und wenn ja, nur von Therapeuten, die im Sinne der Gemeinschaft therapieren und womöglich selbst missbräuchlich agieren. Ein ehemaliges Mitglied einer Kommunität berichtet, sie sei zu einem Psychiater geschickt worden, der sie mit Medikamenten bald wieder „funktionstüchtig“ machen sollte. Gott sei Dank sah dieser die ungünstigen Bedingungen, der die Schwester ausgesetzt war, und ermahnte die Oberen, seiner Patientin mehr Ruhepausen und genügend Schlaf zu ermöglichen.

Meist wird die Schuld für einen Zusammenbruch dem Mitglied selbst zugeschrieben. Geht es ihm nicht gut, ist es selbst dafür verantwortlich. Die Oberen legen keine Rechenschaft über ihren Teil der Verantwortung ab.

Womöglich werden Schwestern oder Brüder, die nicht mehr „zu gebrauchen“ sind, dann aus der Gemeinschaft entlassen – unter Umständen ohne jegliche finanzielle Entschädigung oder Starthilfe.

Das Opfer muss selbst sehen, wie es „in der Welt“ zurechtkommt. Dabei schreibt das Kirchenrecht genau vor, unter welchen Voraussetzungen Mitglieder ausgeschlossen werden können und wie sie finanziell unterstützt werden müssen. Doch vielen ist dies nicht bekannt, bzw. sie haben nicht die Kraft, ihr Recht gegen den Widerstand der Gemeinschaft einzufordern.

Folgen spiritueller Gewalt

Spirituelle Gewalt hat ähnliche Folgen wie körperliche oder sexuelle Gewalt. Sie führt zu innerer Zerrissenheit und Verwirrung, da Täter vorgeben, im Sinne der ihnen Anvertrauten zu handeln. Das innere Leiden der Opfer ist jedoch immens. Sinnkrisen, Schuldgefühle, Scham, Hilflosigkeit, Trauer, Wut und Angst finden hier ihren Nährboden. Das Selbstwertgefühl wird zerstört und Betroffene fühlen sich innerlich wie ausgelöscht. Sie entwickeln häufig psychosomatische Beschwerden und sehen sich in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Die Persönlichkeit kann sich nicht entfalten. Falls bereits kindliche Bindungsverletzungen vorliegen, kommt es zu einer Retraumatisierung. Häufig entstehen Depressionen, Angststörungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Im schlimmsten Fall erlischt der Lebenswille gänzlich. Entweder fehlt die Kraft, sich aus dem missbräuchlichen System zu lösen, oder es kommt zu Suizidgedanken bis hin zum vollendeten Suizid.

Heilung von spiritueller Gewalt dauert lange, da der ganze Mensch mit all seinen Facetten betroffen ist. Der mühsame Weg der inneren und äußeren Wiederherstellung braucht viel Zeit und Geduld, von der Person selbst sowie auch von Begleitenden. Doch jeder Schritt auf diesem Weg lohnt sich und führt langsam wieder in die innere Freiheit und Selbstbestimmung zurück.

Quelle:

Wagner, Doris (2019): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Herder Verlag.

Zurück