Blog #5: Spirituelle Manipulation - der Giftstachel geistlichen Missbrauchs

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Mitglieder religiös missbräuchlicher Systeme nicht innerhalb kürzester Zeit ihr Umfeld wieder verlassen? Warum wird die Manipulation oft so lange nicht bemerkt? Fakt ist, dass durch das sogenannte „love bombing“, ein intensives Erfahren von Liebe und Zugehörigkeit, zunächst eine starke emotionale Bindung an die Gruppe aufgebaut wird, die die Mitglieder für die Lehre der Gemeinschaft empfänglich macht. Durch spirituelle Manipulation werden dann ganz allmählich christliche Werte, Begriffe und Vollzüge, die eigentlich in die Freiheit führen und Erfüllung bringen sollen, so umgedeutet, dass sie zum Druckmittel werden. Dabei scheinen manche Aussagen auf den ersten Blick durchaus fromm und nachvollziehbar zu sein, erst nach und nach wird deutlich, worin ihr manipulativer Charakter besteht.

Der Frosch im Topf

In diesem Zusammenhang kommt mir die Parabel vom Frosch im Topf in den Sinn, die ich vor kurzem gehört habe. Sie geht so: „Versucht man einen Frosch in heißes Wasser zu setzen, wird er sofort wieder herausspringen. Obwohl Frösche Kaltblüter sind und ihre Körpertemperatur der Umgebung anpassen, spüren sie unmittelbar die Gefahr für Leib und Leben. Ganz anders, wenn man einen Frosch in einen Topf mit kaltem Wasser setzt und diesen langsam erhitzt. Obwohl es für den Frosch darin immer unbequemer wird, bleibt er sitzen, passt sich an und harrt aus – so lange, bis es für einen Absprung zu spät ist und er verbrüht.“ Auch wenn Experten sagen, dass die Parabel naturwissenschaftlich nicht evident sei, kann sie doch als Sinnbild dafür verwendet werden, wie Personen langsam und unbemerkt in Prozesse spiritueller Manipulation hineinkommen können, die sich ihrem Bewusstsein entziehen, bis sie schließlich so darin gefangen sind, dass es keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

Bewusstseinskontrolle versus Gehirnwäsche

Inge Tempelmann bezeichnet diesen Vorgang als Bewusstseinskontrolle. Manchmal wird im Rahmen geistlichen Missbrauchs auch der Begriff „Gehirnwäsche“ verwendet. Diese findet jedoch normalerweise im Kontext einer Gefangennahme mit Foltermethoden statt, um falsche Geständnisse zu erzwingen. Die Bewusstseinskontrolle geht hier subtiler und raffinierter vor. Denn ihre „Täter“ werden als Freunde oder Ebenbürtige betrachtet, sodass sich Betroffene viel weniger verteidigen. Anstelle körperlichen Missbrauchs wirken hypnotische Prozesse in Kombination mit Gruppendynamiken. Der meditativ vorgetragene, mit Liedern unterlegte Text, die hoch emotionale Predigt oder lange indoktrinierende Sitzungen können zu tranceähnlichen Zustanden führen, die das kritische Denken der zuhörenden Person einschränken. Das ist normalerweise kein Problem, solange diese nicht von Menschen, die Einfluss gewinnen wollen, für ihre Zwecke genützt werden.

Die Acht Kriterien der Gedankenumbildung

Wie genau geschieht nun die Umbildung der eigenen Gedanken? Inge Tempelmann beschreibt dies auf eindrückliche Weise anhand der 8 Kriterien für Gedankenumbildung nach Robert Liften, die sie im Speziellen auf religiös missbräuchliche Systeme anwendet:

1. Milieukontrolle:

Milieukontrolle geht einher mit einer Kontrolle der Information und der Kommunikation in einer Umgebung und endet in einem erheblichen Maß an Isolation von der Gesellschaft. In spirituell missbräuchlichen Gemeinschaften können dies Kontaktverbote zu gewissen Personen außerhalb der Gemeinschaft, klare Vorgaben in der Lektüre, das Verbot, Nachrichten zu hören, mangelnde Zusammenarbeit mit anderen Gemeinschaften oder auch das Beschränken von Exerzitien und geistlicher Begleitung auf die eigene Gemeinschaft sein.

2. Mystizistische Manipulation

Besondere Erfahrungen der Gruppe oder des Leiters dienen als Beweis, dass es sich um eine besondere und einzigartige Gemeinschaft handelt, die einen besonderen Auftrag hat. Häufig kommt es hier zu christlichen Übertreibungen wie „Wir werden die Kirche erneuern/die Welt retten“ – „Unsere Gebetsform/Spiritualität ist die einzig wahre, daher zeigen wir allen anderen, wie es richtig geht.“ Diese sind Ausdruck eines christlich geprägten Größenwahns und Elitedenkens.

Der Eintritt in diese Gruppe hat daher mit etwas Höherem (einer besonderen Erwählung) zu tun, somit kann sie auch nicht einfach wieder verlassen werden. Aufgrund dieser „hohen Berufung“ wird alles andere im Leben zweitrangig oder gar unbedeutend.

3. Manipulation der Sprache

Über einen längeren Zeitraum hinweg entsteht eine gruppeninterne Sprache, die christlichen und theologischen Begriffen eine neue Bedeutung gibt. Ohne dass die Mitglieder es bewusst wahrnehmen, verstehen sie die Begriffe im Sinne der neuen Interpretation. Vergebungsbereitschaft etwa steht für Konfliktvermeidung; Hingabe meint Selbstaufgabe und Ausbeutung; Heiligkeit steht für Perfektionismus; Gehorsam für völlige Unterwerfung.

Dadurch wird das Denken der Mitglieder eingeengt und ihre kritische Denkfähigkeit ausgeschaltet. Allmählich werden das Sprechen im Insiderjargon und die entsprechenden inneren Haltungen dazu zur zweiten Natur.

4. Die Heilige Wissenschaft (= die Lehre)

Die Gruppe präsentiert eine bestimmte Lehre, die man nicht zu hinterfragen hat. Häufig besteht diese aus christlichen Patentrezepten, die grundlegende christliche Wahrheiten verabsolutieren und anderen Menschen überstülpen, wie zum Beispiel: „Das Geheimnis einer glücklichen Familie: alles sofort vergeben.“ – „Vertraue auf Gott, dann wird alles gut.“ Nicht selten wird dabei ein Wert erhöht und in die spirituelle Ebene verschoben, wodurch Bedürfnisse stigmatisiert und verdrängt werden sollen. Zum Beispiel: „Wer in der Nachfolge lebt, erleidet keinen Mangel.“ Wer sich aber dennoch bedürftig erlebt oder das Gefühl hat, ihm fehle etwas, fühlt sich nicht heilig genug und schämt sich für sein Menschsein. Forderungen nach Vertrauen, Glauben und Freude, nach dem Motto „ein wahrer Christ ist niemals traurig“, sind in jedem Fall übergriffig, denn dadurch werden leidende Personen zusätzlich unter Druck gesetzt.

Besonders gravierend sind sogenannte „Dämonisierungen“: „Wer eine andere Meinung vertritt als die Leitung, dient dem Geist des Unfriedens“. Denn die Leitung ist über alle Kritik erhaben.

5. Forderung von Reinheit (= Perfektion)

Gemeint ist hier die Erwartung einer gewissen Perfektion, die durch die Regeln der Gruppe definiert ist. Diese beinhaltet, der Lehre der Gruppierung gegenüber gehorsam zu sein. Zweifel sind nicht erlaubt. Es herrscht ein starkes Schwarz-Weiß-Denken, ein Alles-oder-nichts-Glaubenssystem. Von den Mitgliedern wird erwartet, dass sie sich selbst und andere danach beurteilen.

Hierzu gehört auch das ständige Erzeugen von Schuld- und Schamgefühlen, welche Menschen von der Gruppe abhängig machen, zum Beispiel wenn die Gruppe sagt: „Wir lieben dich, weil du tust, was wir sagen“. Das bedeutet auch, dass man fallen gelassen wird, wenn man nicht mehr tut, was erwartet wird.

6. Beichtkult (= Bekennen der Abweichungen von der Lehre)

Da die Gruppe definiert, was falsch und richtig ist, müssen Differenzen zwischen der Lehre der Gruppe und der eigenen Erfahrung in der Beichte bekannt werden. Dies können zum Beispiel unerwünschte Gefühle gegenüber der Gruppe/der Leitung oder auch Kontakte zu Außenstehenden sein. Manche Gruppen verlangen, dass die Betroffenen jederzeit bis ins Innerste durchschaubar sind. Dies macht sie manipulierbar und dient dazu, sie leichter kontrollieren zu können. Es geht also nicht darum, tatsächliche Schuld vor Gott zu bekennen und davon losgesprochen zu werden, sondern dass Leitende durch die Beichte bzw. den Zuspruch Macht über Menschen bekommen.

7. Die Personen beherrschende Doktrin (= die Lehre steht über der Person)

Persönliche Erfahrungen der Mitglieder müssen der Lehre untergeordnet werden. Erfährt die Person etwas, das nicht der Ideologie der Gruppe entspricht, wird sie dies – bewusst oder unbewusst - leugnen oder uminterpretieren. Häufig ist zu beobachten, dass Mitglieder mit der Zeit keine eigene Meinung mehr haben. Leitende fordern sie auf, ihrer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen und ihre Gefühle, Erfahrungen und Bewertungen zu ignorieren.

Die Lehre ist dabei wichtiger als die Person. Mitglieder, die in diesem System versagen, werden häufig erniedrigt und entwertet. Dies entspricht nicht dem biblischen Grundsatz der Liebe, der auch dann noch Menschen in Wertschätzung begleitet, wenn Probleme sich nicht sofort lösen.

8. Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung

Das totalitäre Denken und das Milieu sektiererischer Systeme bzw. religiös-missbräuchlicher Gruppierungen vertreten die Vorstellung, Mitglieder seien Teil einer elitären Bewegung, für die sich der ganze Lebenseinsatz lohne. Dementsprechend werden Nichtmitglieder als minderwertig gesehen, auch wenn das nicht explizit ausgesprochen wird. Es herrscht die Überzeugung: Wir sind die Besten, die besonders Beauftragten, die mit besonderer Erkenntnis ausgestatteten. Folglich verliert die Welt draußen jede Glaubwürdigkeit. Die Gruppe bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Idealisierung und Entwertung. Dies rechtfertigt die Manipulation von Nichtmitgliedern.

Für den Einzelnen bedeutet es, dass persönliche Gaben und Berufungen nicht mehr zählen. Es geht nicht mehr um die Person an sich, sondern um die Vision der Gemeinde, der sich jede persönliche Berufung unterzuordnen hat. Die Existenz der Mitglieder ist auf das Gruppendasein zentriert. Wer geht, steht dem Nichts gegenüber.

Die Folgen spiritueller Manipulation

Menschen, die über längere Zeit spirituell manipuliert worden sind, haben den Kontakt zu sich selbst verloren. Sie haben gelernt, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu unterdrücken und die Welt mit den Augen des Manipulators zu sehen. Sie haben aufgehört, selbst zu denken und zu fühlen oder irgendwelche inneren Regungen zu spüren, die nicht mit dem übereinstimmen, was vom Manipulator gutgeheißen wird. Dabei glauben sie, das alles selbst zu wollen und glücklich zu sein, auch wenn es ihnen damit tatsächlich nicht gut geht und sie innerlich nicht frei sind. Menschen, die derart manipuliert worden sind, müssen ab einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht mehr aktiv unter Druck gesetzt werden, um sich im Sinne des Manipulators zu verhalten. Sie sind und bleiben unter seinem Einfluss, oft selbst dann noch, wenn sie sich eigentlich von ihm lösen wollen. Denn „it is easier to get out of a cult than to get the cult out of you“, auf Deutsch etwa: „Es ist einfacher, aus einem Kult herauszugehen, als den Kult aus sich herauszubekommen.“ Was der Person lieb und teuer war, ihr persönlicher Glaube, ist vergiftet worden. Wird einer Person bewusst, was mit ihr geschehen ist, kann dies nicht selten eine komplette Abwendung von ihren religiösen Überzeugungen zur Folge haben.

Quellen:

  • Tempelmann, Inge: Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt. SCM-Verlag
  • Hannah A. Schulz: Durch Nebel hindurch. Aus ignatianischer Sicht geistlichen Missbrauch erkennen und überwinden. Echter Verlag
  • Wagner, Doris: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Herder Verlag

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