Blog #9: Die Antwort der Kirche

Kennen Sie das Gefühl, mit dem, was Sie erlebt haben, allein dazustehen? Bei anderen mit Ihren Erfahrungen auf Ratlosigkeit oder ein Herabspielen der Problematik zu stoßen? Während sexueller Missbrauch durch Vertreter der Kirche in aller Munde ist, wirft der Begriff des Geistlichen Missbrauchs viele Fragen auf und kaum einer weiß, was genau darunter zu verstehen ist.

Dies soll sich nun ändern. Die Deutsche Bischofskonferenz hat bei ihrer Herbst- Vollversammlung die Arbeitshilfe „Missbrauch geistlicher Autorität – Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch“ in einem Pressegespräch vorgestellt. Damit leistet sie einen äußerst wichtigen Beitrag zu diesem Thema. Mich erfüllt dies mit großer Hoffnung, daher möchte ich in diesem Blog-Artikel näher auf einzelne Punkte der Arbeitshilfe eingehen.

Entstehung

Bischof Heinrich Timmerevers beschreibt in seinem Vorwort, dass die Initiative zu diesem Dokument den Betroffenen selbst zu verdanken ist, die von ihren missbräuchlichen Erfahrungen berichtet und diese veröffentlicht haben. Eine Ermutigung also an alle, die Ähnliches erlebt haben, sich nicht zu scheuen, davon zu sprechen!

Er führt weiter aus, dass die „psychischen, emotionalen, biographischen und existenziellen Folgen, die bisweilen lebenslang wirkenden Verwundungen solchen Missbrauchs [ ], denen des sexuellen Missbrauchs vergleichbar“ sind. Welch weitreichende Aussage, die endlich das große Leid der Betroffenen angemessen beschreibt.

Begriff

Bei „geistlichem oder spirituellem Machtmissbrauch geht es darum, dass Täterinnen und Tätern ihr geistliches Amt [ ] dazu missbrauchen, anderen die eigenen speziell religiösen Auffassungen, die eigenen Werte oder Überzeugungen aufzudrängen und sie zu bestimmten Verhaltensweisen und Handlungen zu zwingen.“ Dies wird als Geistlicher Machtmissbrauch bezeichnet.

Darüber hinaus gibt es weitere Personen, die keine strukturelle Machtfunktion in der Kirche innehaben, wie etwa SeelsorgerInnen, BegleiterInnen - hauptberuflich oder ehrenamtlich-, in Gemeinschaften, Orden, Pfarreien, kirchlichen Verbänden oder anderen kirchlichen Gruppierungen. In diesem Fall missbrauchen diese die geistliche Autorität, die ihnen zukommt. Damit verbunden ist der manipulative „Umgang etwa in der Auslegung der Heiligen Schrift, der geistlichen Tradition der Kirche oder der Spiritualität einer Gemeinschaft.“

Theologisch-anthropologische Verortung

Zwei theologische Grundannahmen sind konstitutiv: Zum einen ist Gott „nach jüdisch-christlichem Verständnis ein ‚bleibendes Mysterium‘, der ‚ganz Andere‘. Und in Bezug auf den Menschen gilt: Bei allem, was in Bezug auf ihn analysiert und festgestellt werden kann, ist jeder Mensch immer größer als die Summe der über ihn möglichen Aussagen.“ Indem TäterInnen behaupten, genau zu wissen, was Gott von den ihnen Anvertrauten wolle, verletzen sie die Würde des Menschen und zugleich „den bleibenden Geheimnischarakter Gottes“.

Es geht also „um das innerste Gottesverhältnis des betroffenen Menschen“ und darum zentral auch um ein Vergehen gegen Gott.

Definition und Dimensionen

Erstmals haben die deutschen Bischöfe den Versuch unternommen, Geistlichen Missbrauch zu definieren.

Spirituelle Dimension: Pater Klaus Mertes SJ postuliert, dass Geistlicher Missbrauch „auf einer tiefer liegenden Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes“ basiere. Dahingehend ist es anmaßend, „wenn christliche Gottesbezüge und kirchliche Traditionen so benutzt werden, dass sie die persönliche Freiheit und die spirituelle Selbstbestimmung missachten“.

Theologische Dimension: „Einseitige Gottes- wie Menschenbilder, eine pessimistische Weltsicht und ein elitäres Kirchenverständnis tragen zu massiven geistlichen Engführungen bei. Lebendiger Glaube und spirituelle Weiterentwicklung müssen dabei zwangsläufig auf der Strecke bleiben.“

Soziale Dimension: Im Blick auf das zwischenmenschliche Miteinander kommt es Ausgrenzung und Vereinsamung, sowie einem bewusstem „Abhängig-Machen“.

Psychische Dimension: Die „Auswirkungen einer krankmachenden Ideologie sowie einer starren sozialen Anpassung in ihren unabsehbaren Wirkungen und Dauerfolgen“ sind nicht zu unterschätzen. „Grenzüberschreitungen jedweder Art verletzen nicht nur die Würde der Betroffenen, sie schädigen auch die psychische Gesundheit nachhaltig.

Physische Dimension: Die oben genannten Übergriffe können „wiederum massive Auswirkungen haben auf die körperliche Unversehrtheit“.

„Beim Geistlichen Missbrauch werden christliche Werte, biblische Texte, kirchliche Vorgaben und theologische Aussagen missbräuchlich instrumentalisiert oder grob pervertiert. Frömmigkeitspraktiken oder geistliche Übungen werden unzulässig vereinfacht, indem sie als allein heilbringend dargestellt und zur verpflichtenden Auflage gemacht werden. Manipulation geschieht auch durch Verschweigen, Vorenthalten oder Unterdrücken von Kenntnissen und Informationen, weil die Verantwortlichen z. B. aus Angst oder eigener Unwissenheit keine Infragestellung oder Weiterentwicklung im geistlichen Leben zulassen wollen. Der Missbrauch geistlicher Autorität wird dabei scheinbar legitimiert, indem Menschen sich selbst mit der „Stimme Gottes“ identifizieren oder von anderen gleichgesetzt werden. Die negativen psychosozialen und physischen Folgen sind oft gravierend und langfristig.“

Anlaufstellen für Betroffene

Die deutschen Bischöfe haben erkannt, „wie dringend und Not wendend es ist, Strukturen und Hilfsangebote zu schaffen, die persönliche Aufarbeitung und konkrete Unterstützung ermöglichen“. Daher sollen Anlaufstellen für Betroffene von Geistlichem Missbrauch geschaffen werden, entweder überdiözesan oder innerhalb einer Diözese. Orden oder geistliche Gemeinschaften können eigene Anlaufstellen einrichten, die unabhängig und kompetent sein sollen. Wichtig ist, dass sich „Betroffene vertraulich und für Außenstehende unerkannt an die Stelle wenden können. Eine solche Anlaufstelle kann an bestehende diözesane Strukturen angegliedert werden. Das kann eine Fachstelle für Spiritualität oder Exerzitien, die Ehe-, Familien- und Lebensberatung oder eine andere bereits bestehende Interventionsstelle sein. Die Zuständigkeit könnte auch bei den Beauftragten für geistliche Gemeinschaften, bei den Ordensreferaten oder Weltanschauungsbeauftragten liegen. Denkbar ist auch – vor allem auf überdiözesaner Ebene – die Einrichtung einer eigenen Anlaufstelle für Betroffene von Geistlichem Missbrauch.“ In diesen Anlaufstellen soll ein erster Kontakt für Betroffene und deren Angehörige ermöglicht werden. Ihnen soll zugehört und Unterstützung ermöglicht werden, „um über das Erlebte und Erlittene ins Gespräch zu kommen“. Dazu gehören auch „Angebote, die eigenen Erfahrungen besser einzuordnen, etwa durch die Reflexion theologischer Zusammenhänge, spiritueller Konzepte und weltanschaulicher Vorgaben“.

In der Beratung geht es zuallererst um die Frage, was Betroffene brauchen. Dementsprechend können „psychologische und therapeutische, soziale und existenzsichernde, seelsorgliche und spirituelle, rechtliche und kirchenrechtliche Hilfen“ vermittelt werden. Da nicht alles in einer Anlaufstelle leistbar sein wird, ist auf eine gute Zusammenarbeit mit anderen Beratungsstellen zu achten.

Intervention von Verantwortlichen

Die Anlaufstellen selbst führen keine Interventionen durch, sondern beraten und unterstützen in erster Linie die Betroffenen selbst. „Wendet sich eine Betroffene oder ein Betroffener vertrauensvoll an eine Anlaufstelle und möchte vom erlittenen Leid berichten, wünscht aber keinerlei Intervention, so sind Verschwiegenheit und Vertraulichkeit unbedingt zu wahren“. Die Anlaufstellen stärken zunächst die Interventionsmöglichkeiten, die die Betroffenen selbst bzw. ihr Umfeld möglicherweise haben. Gemeinsam mit den Betroffenen überprüfen sie, ob mit der Unterstützung von anderen, „die vorhandenen missbräuchlichen Strukturen oder Regelungen aufgedeckt und weiterbearbeitet werden können“. Die Missstände und der Geistliche Missbrauch sollen möglichst zeitnah beseitigt werden, „um weiteren Schaden abzuwenden. In den Anlaufstellen (forum internum) können mögliche Interventionen gemeinsam mit den Betroffenen überlegt und angeregt werden.

Das Intervenieren (forum externum) selbst aber liegt bei den Leiterinnen und Leitern oder Verantwortlichen in den Gliederungen eines Ordens oder kirchlichen Verbandes, in einer geistlichen Gemeinschaft, Gruppierung oder Gemeinde. [] Wenn die Verantwortlichen vor Ort ihre Unterstützung verweigern oder diese nicht zielführend ist, gibt es weitere, vor allem auch dienst- und kirchenrechtliche Interventionsmöglichkeiten durch die Höheren Ordensoberen, den Offizial, Generalvikar und den Bischof.“

Kirchenrechtliche Verfahrenswege

Da Geistlicher Missbrauch weder im kirchlichen Strafrecht noch im staatlichen Strafgesetzbuch als Straftat qualifiziert wird, ist die kirchenrechtliche Verfolgung derzeit nur „in einzelnen konkreten Tatbeständen und darum sehr begrenzt möglich“.

Daher bleibt es „eine dringende Aufgabe, weitere neue rechtliche Maßnahmen und strukturelle Vorgaben zu erarbeiten“. Das Kirchenrecht enthält durchaus „Schutzbestimmungen, um Schaden am Seelenheil der Gläubigen zu verhindern“, wie z. B. „im Rahmen der kirchlichen Lehre einer eigenen Form des geistlichen Lebens zu folgen [], ihren Lebensstand frei von Zwang zu wählen [], das Recht auf guten Ruf und Schutz der Intimsphäre [] sowie das Recht auf die freie Wahl des Beichtvaters.“ Ordensmitgliedern wird „eine gebührende Freiheit in Bezug auf das Bußsakrament und die geistliche Führung eingeräumt [], die Beichte bei den Oberen nur im Ausnahmefall auf ausdrückliche Bitte des Ordensmitgliedes erlaubt [] und die Verpflichtung zur Gewissensöffnung durch den Ordensoberen verboten.“

„Eine staatliche Strafverfolgung kann beispielsweise eingeleitet werden, wenn der Geistliche Missbrauch einhergeht mit dem Verdacht auf

  • Freiheitsberaubung (§ 239 StGB),
  • Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts (vgl. § 177 (1) StGB),
  • Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (§§ 223–231 StGB).

Eine kirchliche Strafverfolgung kann eingeleitet werden, wenn mit dem Geistlichen Missbrauch

  • ein Missbrauch des aus der Beichte gewonnenen Wissens (can. 984 CIC),
  • Amtsmissbrauch gemäß can. 1378 CIC,
  • Verletzung des Beichtgeheimnisses (can. 1386 CIC),
  • Amtspflichtverletzung gemäß can. 1389 CIC,
  • die Verletzung des guten Rufes (can. 1390 § 2 CIC) einhergeht.“

Wenn nötig und rechtlich möglich, „sind strafrechtliche bzw. dienstrechtliche Konsequenzen für die Täterpersonen durchzusetzen (wie Suspendierung vom Dienst, Amtsenthebung, Entziehen von Vollmachten und Beauftragungen, Einleitung von kirchlichen Strafverfahren) und verwaltungsrechtliche Entscheidungen zu treffen.“

Präventionsmaßnahmen

Wie kann nun Geistlicher Missbrauch verhindert werden? Personen sollen in ihrer spirituellen Autonomie gefördert werden, damit sie „Missbrauch erkennen und verhindern können bzw. wissen, wo sie Unterstützung bekommen“.

In einigen Diözesen und Gemeinschaften gibt es bereits „Bestimmungen, z. B. zur Zulassung von geistlichen Gemeinschaften, Anforderungen an Seelsorgerinnen und Seelsorger, an geistliche Begleitungen, zu Heilungsgottesdiensten usw.“ Nun geht es darum, Präventionsmaßnahmen für alle kirchlichen Kontexte zu erarbeiten, in denen Geistlicher Missbrauch ausgeübt werden kann.

Zu diesen gehören etwa

  • die Entwicklung von umfassenden Schutzkonzepten und einem Verhaltenskodex für alle im Bereich des kirchlichen Lebens tätigen Haupt- und Ehrenamtlichen;
  • die Entwicklung und Evaluation von Qualitätskonzepten in allen Bereichen der Seelsorge und der kirchlichen Bildungsarbeit;
  • Thematisierung in den Ausbildungen zu den pastoralen Berufen; dabei ist besonders die notwendige Asymmetrie seelsorgerlichen Handelns in ihrem Gefährdungspotential zu behandeln;
  • Angebot von Fortbildungen und Schulungen (auch für nicht kirchliche Berufe in Beratung und Therapie), um die Folgen des eigenen pastoralen Handelns zu reflektieren, Geistlichen Missbrauch zu erkennen und Betroffene zu begleiten;
  • gründliche Prüfung von Statuten und Konstitutionen bei der Zulassung einer geistlichen Gemeinschaft oder Errichtung einer Ordensniederlassung;
  • regelmäßige Visitation von Neuen geistlichen Gemeinschaften und Ordensgemeinschaften und Überprüfung von deren Statuten, Konstitutionen und Lebensweise;
  • Wahrnehmung der Fürsorgepflicht für (Ordens-)Gemeinschaften und ihre Mitglieder durch regelmäßige Kontakte und wohlwollend kritische Begleitung;
  • theologisch-kritische Reflexion auf Gottesbild, Menschenbild, Kirchenverständnis, Morallehre und auf zentrale Begriffe des geistlichen Lebens wie Hingabe, Gehorsam, Nachfolge, Kreuz, Heiligung, mit dem Ziel, Ideologisierungen und manipulative Verzerrungen aufzudecken;

Aufarbeitung

Mit Blick auf die Betroffenen gilt es, Gerechtigkeit zu schaffen. Wo der Geistliche Missbrauch über viele Jahre anhielt und Betroffene auch lange nach ihrem Ausstieg leiden, braucht es eine umfassende Aufarbeitung. „Gerade dann, wenn kirchlichen Institutionen und Verantwortungsträgern schwerwiegende Fehler unterstellt werden, sei es durch Wegschauen, Nichtreagieren oder Bagatellisieren, sei es durch bewusstes oder achtloses übergriffiges Handeln, braucht es grundlegende Untersuchungen. Erst wenn das, was geschehen ist, gesehen wird, erst wenn die Betroffenen mit ihren (leidvollen) Erfahrungen wahr- und ernst genommen werden, erst wenn das Geschehene als Geistlicher Missbrauch benannt wird, können wirksame Konsequenzen gezogen werden und kann sich bei den Betroffenen ein Empfinden von Gerechtigkeit und Frieden einstellen.“

„Aufarbeitung, die sich als Dienst an der Gerechtigkeit versteht, gelingt nur, wenn die Betroffenen von Anfang an gleichberechtigt mitwirken an Konzeption und Durchführung des Prozesses. Ebenso wichtig ist die konstruktive Unterstützung durch die Verantwortungsträger; ohne entschlossene Bereitschaft der Bistümer und (Ordens-)Gemeinschaften, Ressourcen zur Verfügung zu stellen und proaktiv mitzuarbeiten, bleibt Aufarbeitung Stückwerk, droht weiterer dauerhafter Schaden für die Betroffenen wie für die Kirche und vergibt man wichtige Zukunftschancen.“

Hier bleibt zu hoffen, dass Betroffene für das Ihnen zugefügte Leid, ähnlich wie Betroffene von sexuellem Missbrauch, auch einmal eine finanzielle Entschädigung erhalten. Bis dahin braucht es wohl noch viel wissenschaftliche Forschung und Aufklärung über das Thema.

Die Arbeitshilfe Missbrauch geistlicher Autorität – Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch kann in der Deutschen Bischofskonferenz unter der Rubrik Publikationen als Broschüre bestellt oder als PDF-Datei heruntergeladen werden.

 

Quelle: Missbrauch geistlicher Autorität. Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch (dbk-shop.de)

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