Blog #8: Das Leben heilsam gestalten
Nach den Verwundungen und Verletzungen im missbräuchlichen Kontext ist es für leidtragende Personen wichtig, ihr Leben wieder sinnvoll und heilsam zu gestalten. Sich selbst ernst nehmen und auf die eigene Befindlichkeit achten, insbesondere wenn Traumatisierungen erfolgt sind, kann lebens-not-wendig sein. In diesem Blogartikel möchte ich Betroffenen von spirituellem Missbrauch einige Anregungen an die Hand geben, die dazu beitragen können, behutsam mit sich selbst umzugehen.
Traumaheilung ist ein Prozess
Zunächst einmal braucht es viel Geduld mit sich selbst. Heilung ist nichts, was wir anpacken und durchziehen können, sie ist ein Prozess. Sie ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit Symptomfreiheit, sondern besteht in erster Linie in einer tiefen Verbundenheit mit sich selbst, mit dem heilen inneren Wesenskern. Peter Hundertmark warnt vor der Hoffnung, nach spirituellem Missbrauch rasche Erfolge erzielen zu können. Er nennt die Faustformel: Wenn die Person mit guter Unterstützung intensiv daran arbeitet, braucht es etwa so lange für eine Gesundung, wie sie dem missbräuchlichen Kontext ausgeliefert war. Dies kann natürlich je nach eigener Widerstandskraft und den persönlichen Ressourcen variieren.
Sich selbst wie einen Freund behandeln
Betroffene dürfen lernen, die Härte gegen sich selbst abzulegen und mit der eigenen Seele behutsam umzugehen wie mit einem Freund, der Fürsorge braucht. Ruhepausen einbauen und herausfinden, was einem wirklich guttut, kann eine Herausforderung sein, wenn man sich über Jahre hindurch überfordert hat. Hier ist die Frage hilfreich: Was lässt mich durchatmen und gibt mir ein Gefühl von Wohlbefinden?
Freude einplanen
In einem Umfeld, in dem nur Aufopferung gefragt war, gab es oft wenig Platz für Schönes. Es ist kein Luxus, sich nun etwas Gutes zu gönnen, Dinge zu genießen und regelmäßig Schönes einzuplanen. Solche Freuden haben nichts mit Egoismus zu tun, sondern sind für die seelische Genesung wichtig.
Die eigenen Grenzen achten
Durch körperliche und seelische Leiden sind die eigenen Belastungsgrenzen häufig eingeschränkt. Versuchen Sie, bereitwillig mit Ihren momentanen Grenzen zu leben. Gehen Sie hinsichtlich Ihrer Herausforderungen und Aufgaben nicht über Ihre persönlichen Kräfte und muten Sie sich bezüglich Ihrer Verletzlichkeiten nur Angemessenes zu. Erst mit der Zeit macht es Sinn, Grenzerweiterndes in kleinen gangbaren Schritten anzugehen.
Gut mit körperlichen Bedürfnissen umgehen
Im Rahmen missbräuchlicher Strukturen hat der Körper gelitten. Das Wahrnehmen und Ernstnehmen unserer körperlichen Bedürfnisse kann eine wichtige Bedingung für ein ganzheitliches Heilwerden sein, denn als Mensch sind wir eine Ganzheit aus Geist, Seele und Körper. Der Körper ist uns von Gott als wichtiges Gut anvertraut, und er möchte, dass wir gut mit ihm umgehen.
Eine ausgewogene, gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf stellen daher eine wichtige Grundlage dar. Planen Sie auch regelmäßige Bewegung und Ruhepausen in Ihren Tagesablauf ein. Bewegung kann gerade bei Traumata sehr regulierend wirken. Egal, was Sie tun, es sollte Ihrem Körper wohltun.
Sich entspannen
Betroffene leiden häufig unter einer großen inneren Anspannung. Entspannungsangebote können hier ausgesprochen unterstützend für den Heilungsprozess wirken. Fragen Sie sich, was Sie wirklich entspannt und Ihnen guttut. Das kann individuell ganz verschieden sein: Fahrradfahren, ein gutes Buch lesen, ein Bad nehmen, Musik hören oder gemütlich eine Tasse Tee trinken…
Spezielle Entspannungs-CDs helfen, Übungen gut in den Alltag zu integrieren. Wenn Sie noch intensiv unter den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder anderen psychischen Symptomen zu leiden haben, unterstützen speziell auf Sie abgestimmte Entspannungstechniken, sich besser von den Auswirkungen des Traumas zu erholen.
Anderen gegenüber Grenzen setzen
Missbrauch-Überlebende haben sich oft zu viel zugemutet und zu viel ausgehalten. Das Bewusstsein dafür, wie viel Sie auch weiter von sich selbst erwarten, darf daher neu geschult werden. Achten Sie gut auf Ihre innere Wahrnehmung und versuchen Sie, sich selbst zu vertrauen. Gott steht auf der Seite der Verwundeten und Geschundenen, wenn er sagt, dass er das geknickte Rohe nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird (Jes 42,3). Gestehen wir auch anderen die Grenzen zu, die sie für ihre Heilung und ihr persönliches Leben brauchen.
Folgeverletzungen vermeiden lernen
Erspüren Sie, wem Sie Ihre Erfahrungen mitteilen und wem nicht. Dabei gilt es, sich vor unangebrachten Reaktionen unwissender und inkompetenter Menschen zu schützen, die neue Wunden reißen können. Wenn Sie trotz aller Vorsicht erneut in Ihrer eigenen Wahrnehmung verunsichert werden, teilen Sie Ihre Erfahrung mit einer Person, die die aktuelle Situation richtig einzuordnen weiß und Gutes sowie Unangemessenes benennen kann.
Mit Triggern umgehen lernen
Solange Sie in bestimmten Situationen von Ihren traumatischen Erfahrungen überflutet werden, sorgen Sie möglichst gut für sich. Es ist sinnvoll zu versuchen, sich so schnell wie möglich wieder zu stabilisieren. Fragen Sie sich, was Ihnen hilft, sich wieder zu fangen und ruhig zu werden. Falls Ihnen dies nicht bekannt ist, können Sie dies mithilfe eines Therapeuten oder Seelsorgers besprechen.
Die eigene Situation und Befindlichkeit verstehen und einordnen lernen
Informationen anhand von Literatur oder Beratungsangeboten für Betroffene von spirituellem Missbrauch helfen zu begreifen, was mit Ihnen geschehen ist und geben Orientierung.
Gegebenenfalls fachliche Hilfe in Anspruch nehmen
Wenn Sie unter psychischen Symptomen oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, sollten Sie professionelle Beratung oder Therapie in Anspruch nehmen. Begleitung im Umgang mit den auftauchenden Problemen kann den Wiederherstellungsprozess wesentlich erleichtern. Dabei muss die begleitende Person die Dynamiken eines Missbrauchssystems verstehen und in einer Vertrauensbeziehung Wärme und Fürsorge anbieten.
Beziehungen besonnen gestalten
Missbrauchs-Überlebende haben das Trauma gerade dort erlebt, wo sie anderen vertraut haben. Darum kann es sich sehr schwierig gestalten, neue Kontakte zu anderen zu wagen.
- Dennoch gilt es, sich aufzumachen und neue Beziehungen aufzubauen. Legen Sie den Anspruch ab, dass neu gewonnene Freunde Ihre erfahrene Not sofort verstehen müssen. Menschen, die keine ähnlichen Erfahrungen gemacht haben, sind mit dem Erzählten leicht überfordert. Verzichten Sie daher zunächst bewusst darauf, verstanden zu werden, um erst einmal eine gute Basis für eine Freundschaft zu schaffen. Später wird es dann auch möglich sein, sich über Vergangenes auszutauschen.
- Stellen Sie alte Beziehungen wieder her, die Sie möglicherweise im Missbrauchssystem aufgegeben haben, sei dies aus Zeitgründen geschehen oder auch, weil Ihnen keine Freundschaften erlaubt waren. Gegebenenfalls braucht es bei im Stich gelassenen Freunden erst eines Heilungsprozesses, damit sie sich wieder auf die Freundschaft mit Ihnen einlassen können.
- Suchen Sie Kontakt zu denen, die das System ebenfalls verließen. Gemeinsame Erfahrungen verbinden. Allerdings sollten Aussteiger die Denkweise des Systems abgelegt haben, ansonsten wird sich der Kontakt als sehr schwierig gestalten.
- Kontakt zu denen, die noch im System sind: Hier fragt sich, ob Sie den Kontakt zu Personen im System aushalten und ob diese einem solchen offen gegenüberstehen. Es könnte allerdings die Beziehung auf Dauer belasten, wenn Sie die im System Verbliebenen ständig auf missbräuchliche Details aufmerksam machen, auch wenn das hier und da wichtig sein kann. Entlassen Sie die anderen behutsam in Gottes Hand, im Vertrauen, dass sie sich zu gegebener Zeit ihrer eigenen Situation stellen.
Christlicher Kontext im Leben nach dem Missbrauch
Überlegen Sie sich nach missbräuchlichen Erfahrungen im christlichen Umfeld in aller Ruhe, ob und welcher Gruppe bzw. Gemeinschaft Sie sich wieder anschließen möchten. Es kann helfen, für sich Werte und Kriterien zu formulieren, die Ihnen bezogen auf Kontakten unter Christen wichtig sind.
Wenn bei bestimmten Auslösern alte Traumata angetriggert werden, kann es in der ersten Heilungsphase sinnvoll sein, für längere Zeit den Kontakt zu christlichen Gruppierungen gering zu halten. Ähnlich wie nach sexuellem Missbrauch brauchen Sie dann einen persönlichen Schutzraum, an dem Sie zur Ruhe kommen, das Trauma verarbeiten und neue Sicherheit für Ihr Leben gewinnen können.
Trotzdem ist es eventuell hilfreich, in nicht bedrohlicher Weise allmählich gute und freundschaftliche Beziehungen im christlichen Bereich aufzubauen. Denn Freundschaften und von Liebe geprägte Beziehungen sind heilsam für die geschundene Seele, die „im Namen Gottes“ so viel Missbräuchliches erlebte.
Mit fortgeschrittenem Heilungsprozess können Sie dann in Ihrem eigenen Tempo entscheiden, ob Sie Ihr Herz wieder öffnen und sich in eine christliche Gemeinschaft einbringen wollen.
Quelle: Tempelmann, Inge (2015): Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt, SCM-Verlag