Blog #12: Selbstmitgefühl nach geistlichem Missbrauch: Ein Weg zur Heilung und Selbstwertschätzung

„Der Schmerz ist einfach so groß“, schrieb mir eine Betroffene vor einiger Zeit. Eine Erfahrung, die wohl alle kennen, die geistlichen Missbrauch erfahren haben. Die Enttäuschung, in die Irre geführt worden zu sein und die Scham darüber, sich den falschen Menschen anvertraut zu haben, sitzt tief. Dazu kommt meist der Umstand, dass andere das Erlebte nicht nachvollziehen können und bagatellisieren. Darüber hinaus machen Selbstmitleid und Selbstanklage den Schmerz noch schlimmer, als er ohnehin schon ist. Wie also herauskommen aus dieser Spirale, die einen unweigerlich nach unten zieht?

Ein besonders kraftvoller Ansatz ist hierbei die Praxis des Selbstmitgefühls. Dem eigenen Schmerz mit Mitgefühl zu begegnen, kann ihn nicht auflösen, aber kann helfen, ihn zu halten und zu lindern. Dieser Blogartikel untersucht, was Selbstmitgefühl ist, warum es nach geistlichem Missbrauch besonders wichtig ist, und wie man es praktisch in den Alltag integrieren kann.

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl ist die Fähigkeit, sich selbst mit Freundlichkeit und Verständnis zu begegnen, besonders in Zeiten des Leidens oder der Schwierigkeiten. Es umfasst drei wesentliche Komponenten:

  1. Selbstfreundlichkeit: Anstatt sich selbst zu kritisieren oder zu verurteilen, behandelt man sich selbst mit Wärme und Verständnis, so wie man es bei einem guten Freund tun würde.
  2. Gemeinsame Menschlichkeit: Erkennen, dass Schmerz und Fehler ein universeller Teil des menschlichen Erlebens sind und dass man nicht allein ist in seinen Schwierigkeiten.
  3. Achtsamkeit: Bewusste Wahrnehmung der eigenen Emotionen und Erfahrungen

 

Warum ist Selbstmitgefühl nach geistlichem Missbrauch wichtig?

Geistlicher Missbrauch kann das Gefühl von Selbstwert und innerer Sicherheit stark beeinträchtigen. Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, kämpfen oft mit intensiven Gefühlen von Schuld, Scham und Zweifel. Diese emotionalen Wunden können dazu führen, dass man sich selbst hart bewertet und sich unzulänglich fühlt.

Selbstmitgefühl kann in diesem Kontext eine entscheidende Rolle spielen:

  • Heilung von emotionalem Schmerz: Durch Selbstmitgefühl kann man den Schmerz anerkennen und sich selbst die nötige Unterstützung bieten, um diesen zu verarbeiten.
  • Wiederherstellung des Selbstwerts: Indem man sich selbst mit Freundlichkeit begegnet, kann man das beschädigte Selbstwertgefühl langsam wieder aufbauen.
  • Reduktion von Selbstkritik: Selbstmitgefühl hilft, die oft übermäßige Selbstkritik zu vermindern, die nach solch traumatischen Erfahrungen auftritt.

Wie kann man Selbstmitgefühl in den Alltag integrieren?

Hier sind einige praktische Schritte, um Selbstmitgefühl nach geistlichem Missbrauch zu fördern:

  1. Achtsamkeitsübungen: Regelmäßige Achtsamkeitspraxis, wie Meditation oder einfaches bewusstes Atmen, kann helfen, die eigenen Emotionen besser zu verstehen und zu akzeptieren.
  2. Freundliche Selbstgespräche: Ersetze selbstkritische Gedanken durch freundliche und unterstützende Botschaften. Wenn du dich selbst verurteilst, frage dich, was du einem guten Freund in der gleichen Situation sagen würdest.
  3. Selbstfürsorge: Sorge für dich selbst durch Aktivitäten, die dir Freude bereiten und die deine körperliche und emotionale Gesundheit fördern.
  4. Schreibe einen Brief an dich selbst: Schreibe einen Brief an dich selbst, in dem du deine eigenen Herausforderungen anerkennst und dir Mitgefühl und Verständnis aussprichst. Dieser Brief kann dir helfen, deine eigenen Bedürfnisse und Gefühle klarer zu erkennen.
  5. Suche Unterstützung: Es kann hilfreich sein, sich mit einem Therapeuten oder einer Selbsthilfegruppe auszutauschen, um zusätzliche Perspektiven und Unterstützung auf dem Weg zur Heilung zu erhalten.

Übung: Die Selbstmitgefühlspause

Diese Übung hilft dir dabei, dich liebevoll und mitfühlend deinem inneren Schmerz zuzuwenden. Dabei ist es wichtig, eine Sprache zu finden, die für dich persönlich wirksam ist. Probiere einige unterschiedliche Formulierungen aus und übe dann mit der Variante, die für dich stimmig ist.

Du kannst die Übung immer dann machen, wenn Du Dich in einem Zustand des Leidens befindest, sei dies innerlich oder auch auf gesundheitlicher Ebene, wie z. B. Erschöpfung oder Schmerzen. Beginne zunächst mit einer leichten bis mittelschweren Situation, da die Ressource unseres Selbstmitgefühls schrittweise anwächst.

  1. Sag nun zu dir selbst: „Das ist ein Augenblick des Leidens.“ Vielleicht sind andere Sätze oder Formulierungen für dich passender. Einige Möglichkeiten wären:
  • „Das tut weh.“ Oder:
  • „Autsch!“
  1. Versuche, dir nun selbst Folgendes zu sagen:
  • „Leid gehört zum Leben.“ Oder:
  • „Ich bin mit meinem Schmerz nicht allein.“
  • „Anderen geht es ähnlich wie mir.“
  • „So fühlt es sich an, wenn Menschen schwierige Zeiten durchmachen.“
  1. Schenke dir nun eine beruhigende Berührung, indem du z. B.
  • eine Hand auf dein Herz legst
  • beide Hände aufs Herz legst
  • eine Hand auf das Herz legst und die andere auf den Bauch…
  1. Versuche, dir jetzt zu sagen: „Möge ich freundlich zu mir sein.“ Oder „Möge ich mir geben, was ich brauche.“ Das ist Selbstfreundlichkeit. Vielleicht gibt es andere freundliche und unterstützende Worte, die du jetzt in dieser schwierigen Situation gern hören möchtest, zum Beispiel:
  • Möge ich mich so annehmen, wie ich bin.“
  • Möge ich beginnen, mich so anzunehmen, wie ich bin.“
  • „Möge ich mir selbst vergeben.“
  • „Möge ich stark sein.“
  • „Möge ich geduldig sein.“

Wenn du Schwierigkeiten hast, geeignete Worte zu finden, vergegenwärtige dir eine Freundin, einen Freund oder einen geliebten Menschen, der in einer ähnlichen Situation ist wie du. Was würdest du zu dieser Person sagen? Welche Nachricht würdest du ihm oder ihr aus deinem Herzen zukommen lassen? Vielleicht kannst du danach dieselben Worte an dich selbst richten.

Reflexion:

Nimm dir einen Moment, um nachzuspüren, welche Erfahrungen du bei dieser Übung gemacht hast. Ist dir irgendetwas aufgefallen, als du mit dem ersten Satz – „Das ist ein Augenblick des Leidens“ – Achtsamkeit wachgerufen hast? Hat sich etwas verändert?

Wie ging es dir mit dem zweiten Satz, der an das gemeinsame Menschsein erinnert? Oder dem dritten, der zur Selbstfreundlichkeit einlädt? War es dir möglich, solch wohlwollende Worte zu finden, wie du sie an eine Freundin oder einen Freund richten würdest? Und wenn ja, wie war es, dir dann selbst diese Worte zu sagen? Sie an dich selbst zu richten? War es leicht? Oder fiel es dir eher schwer?

Manchmal braucht es etwas Zeit, um eine Sprache zu finden, die für dich ganz persönlich stimmig ist und sich echt anfühlt. Nimm dir alle Zeit der Welt dafür – irgendwann findest du die passenden Worte.

Fazit

Selbstmitgefühl ist ein kraftvolles Werkzeug, um nach geistlichem Missbrauch Heilung zu finden und sich selbst neu zu entdecken. Es ermöglicht es uns, uns selbst mit der gleichen Freundlichkeit und dem gleichen Verständnis zu begegnen, die wir auch anderen entgegenbringen würden. Die Reise zum Selbstmitgefühl kann herausfordernd sein, aber sie ist auch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung und zum Wiederaufbau eines gesunden Selbstwerts. Indem wir lernen, uns selbst zu schätzen und uns in schwierigen Zeiten zu unterstützen, können wir nach und nach wieder Vertrauen in uns selbst und in unsere eigenen Fähigkeiten gewinnen.

 

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