Blog #11: Narzissmus im frommen Gewand
Was motiviert Menschen, geistlichen Missbrauch zu verüben? Gibt es besondere Täterprofile? Prinzipiell können alle Menschen, die sich in einer Machtposition befindet, anfällig sein. Ein asymmetrisches Machtgefälle zwischen Täter und Opfer bietet den äußeren Rahmen dafür.
Bislang geht man von zwei Täterprofilen aus: zum einen die Unsicheren und Überforderten, denen es an persönlicher Eignung und an den notwendigen fachlichen Qualifikationen für eine Führungsposition fehlt. Zum anderen die narzisstischen Täter, die ihr Denken und Handeln zum universalen Maßstab machen und sie als absolute Wahrheit verkünden. Beiden gemeinsam ist die mangelnde Bereitschaft, sich selbst infrage zu stellen.
In diesem Artikel geht es um narzisstische TäterInnen, die aufgrund ihrer komplexen Persönlichkeit schwerer zu durchschauen und deshalb auch gefährlicher sind.
Zunächst ein kurzer Blick darauf, worin die Ursache für Narzissmus liegt.
Vernachlässigung versus Verwöhnung
Aufgrund der Erfahrungen mit nahestehenden Bezugspersonen in der Kindheit musste sich der Narzisst unbewusst zweckmäßige Schutz- und Abwehrmechanismus aneignen, die ihn vor seelischen Schmerzen bewahrten. Entweder erfuhr er durch seine Bezugspersonen einen Mangel an Zuwendung und wurde emotional stark vernachlässigt oder er erfuhr eine Überversorgung und Verwöhnung und wurde mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttet bis hin zu einer völlig realitätsfremden Idealisierung seiner Person. Sowohl die starke Vernachlässigung als auch die überzogene Verwöhnung führt neben einer gewissen Veranlagung des Kindes zur Bildung eines realitätsfremden Selbstbildes: Entweder entwickelte der Narzisst aufgrund der mangelnden Fürsorge seiner Bezugspersonen ein negatives Selbstbild von sich, das ihn als eine minderwertige, unfähige, unattraktive, unsichere und schwache Person definiert, oder er legte sich aufgrund der überzogenen Verwöhnung ein positives Selbstbild zu, das ihn als beliebte, erfolgreiche, attraktive, selbstbewusste und überlegene Persönlichkeit darstellt.
Führten ihn seine Erfahrungen in der Kindheit zu einem negativen Selbstbild, erschafft er, um seelischen Schmerzen zu entgehen, ein Größenbild von sich, das mit der Realität nur wenig zu tun hat. Er macht sich größer, als er eigentlich ist, und baut eine kolossale Fassade auf, um andere von sich zu beeindrucken. Entwickelte der Narzisst hingegen durch eine übertriebene Verwöhnung ohnehin ein positives Selbstbild, erwartet er auch zukünftig von seinen Mitmenschen eine bevorzugte Behandlung.
Der Narzisst macht sich zum universellen Maßstab
Um die Wirklichkeit nach dem eigenen Bild zu formen, benötigt der Narzisst im menschlichen Miteinander stets die Vormachtstellung. Er muss die Regeln bestimmen, der Meinungsführer sein und die anderen zwingen, sich unterzuordnen, die eigenen Bedürfnisse und Ansichten aufzugeben und ihm zu gehorchen. Der Narzisst ist damit das Leuchtfeuer, an dem sich alle anderen orientieren müssen, er gibt den Weg vor und hat die Kontrolle über die Route. Dann kann er sein Leben so gestalten, dass es sich optimal an seinem Selbstbild anlehnt. Selbstbild und Wirklichkeit können so miteinander verschmelzen und der Narzisst erlebt in der Realität das, woran er glaubt. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsausprägung sind oft sehr charismatisch, charmant und verführerisch. Dank ihrer Redegewandtheit und ihres Habitus gelingt es ihnen leicht, andere von sich und ihren Auffassungen zu überzeugen. Dadurch gelingt es ihnen, sich zum moralischen Vorbild für andere zu stilisieren. Ihre Worte werden nicht mehr infrage gestellt, sondern als absolute Wahrheiten akzeptiert. Diese Persönlichkeiten wirken nach außen hingegeben an ein höheres Ziel, fest davon überzeugt, etwas Besonderes zu sein und zu tun und eine „Mission“ zu haben. Sie umgeben sich auf direkte oder subtile Weise mit dem Image einer besonderen Berufung oder Begnadung, die sie als „Sprachrohr Gottes“ erscheinen lassen. Auf dieser Basis gelangen sie in eine äußerst machvolle Position, in der sie sich anmaßen, über die alleinige Kompetenz zu verfügen, den Glauben lehren und interpretieren zu dürfen, und andere entsprechend zu führen.
Wie in einem Sog gefangen
Aufgrund seines beachtlichen Charismas schauen andere zum Narzissten auf, sind von ihm fasziniert, fügen sich ihm, geben ihre Meinung und ihr eigenes Urteil ihm zu liebe auf und folgen ihm geradezu blind, als hätte man sie hypnotisiert. Es geht eine magische Kraft von dem Narzissten aus und alle, die mit ihm in Kontakt kommen, sind ergriffen von seiner gewaltigen Ausstrahlung, vertrauen ihm und werden unweigerlich in seinen Bann gezogen. Diese Präsenz und Anziehungskraft des Narzissten machen andere Menschen willenlos. Bereitwillig geben sie ihre eigenen Überzeugungen auf und gewähren dem Narzissten widerspruchslos den Vorrang, weil sie ihn als überlegen ansehen. Auf diese Weise fängt der Narzisst seine Opfer ein: Er spielt den Großartigen, den Unantastbaren, den Perfekten und Allwissenden. Betroffene, die sich in seine Nähe begeben, erleben anfangs ein berauschendes Glücksgefühl. Sie haben das Gefühl, an etwas ganz Außergewöhnlichem teilhaben zu dürfen und schaffen es nicht mehr, sich von ihm zu distanzieren: Sie bleiben in seinem Sog gefangen.
Die große Lebenslüge
Die große Lebenslüge des Narzissten besteht darin, dass er glaubt, sein überzogenes Selbstbild entspreche der Wirklichkeit. Es ist eine feste und indiskutable Größe in seinem Leben. Alles darf hinterfragt werden, aber niemals sein Selbstbild. Daher opfert er einen großen Teil seines Lebens der Verteidigung desselben. Wenn die Realität nicht ins Selbstbild passt, dann muss die Realität eben dazu gezwungen werden: Umstände und Ereignisse werden manipuliert, Kritik und Widerspruch werden bekämpft bzw. als vom „Bösen“ kommend abgewehrt, Andersdenkende werden missachtet, vertrieben oder vernichtet. Kränkungen ersticken jeden Widerstand, Unterwerfung und Zwang schaffen Abhängigkeit und Drohungen und Bestrafungen erzeugen Angst. Der Narzisst ist gezwungen, diese Mittel einzusetzen, um sein Selbstbild aufrechterhalten zu können und niemals an seinen tiefsten Überzeugungen zweifeln zu müssen.
Jede kleinste Form von Kritik, Missachtung, Vernachlässigung und Ablehnung erlebt er als schweren Angriff auf sein Selbstwertgefühl. Berühren seine Mitmenschen unbewusst und unbeabsichtigt seine Ängste, so sind sie in der Regel völlig überzogenen Reaktionen ausgesetzt, die in keinem Verhältnis zu dem auslösenden Ereignis stehen. Der Schreck, der ihnen dann durch alle Glieder fährt, lässt sie fortan vorsichtiger im Umgang mit dem Narzissten werden, was diesen wiederum vor seelischen Schmerzen schützt und sein Selbstbild bestätigt. Um selbst groß dastehen zu können, muss er andere abwerten und erniedrigen. Das Gefährliche an dieser Dynamik ist, dass aufgrund seines Mangels an Empathie die Bedürfnisse und persönlichen Situationen anderer keine Bedeutung mehr für ihn haben, wenn sie zum Hindernis auf seinem eigenen Weg werden. Sobald seine Angst wächst, nicht mehr wichtig genommen zu werden, ist er bereit, „über Leichen zu gehen“. Dabei erkennt der Narzisst die Unangemessenheit seines Verhaltens nicht und bereut es nicht.
Das perfekte Gegenstück
Der Narzisst schart Menschen um sich, die ihn verehren und bewundern. Diese sonnen sich im Glanz des Narzissten und fühlen sich durch seine Grandiosität aufgewertet. Denn auch sogenannte „Co-Narzissten“ haben den Drang, bewundert zu werden, und tragen somit ebenfalls narzisstische Anteile in sich. Ein Co-Narzisst sucht genau das, was der Narzisst zu bieten hat und bietet das, was der Narzisst braucht. Damit sind Co-Narzissten das perfekte Opfer und der ideale Spielball.
Co-Narzissten gehen ganz in der Person des Narzissten auf und stellen keine eigenen Ansprüche. Sie sind meist sehr empathisch und möchten es dem Narzissten recht machen. Dabei verlieren sie die eigenen Grenzen aus dem Blick. Oft lassen sie sich sehr viel gefallen und sind hilfsbereit bis zur Selbstaufopferung.
Narzissten nutzen dieses Verhalten eiskalt aus, da sie keine Empathie für andere empfinden und sich als Mittelpunkt der Welt verstehen. Unterwürfige Personen kommen ihnen sehr gelegen, da sie von ihnen keine Widerworte und Konflikte zu befürchten haben. Die Bewunderung ist ihnen sicher. Durch die Erniedrigung der anderen können sie sich selbst erhöhen.
Erzeugen von Angst und Schuld
Mit unfairen Methoden weckt der Narzisst in seinem Gegenüber Angst- oder Schuldgefühle. Er zielt mit seinen Aussagen auf das Gewissen des anderen und dieser glaubt, die moralischen Maßstäbe unterlaufen zu haben. Betroffenen fällt es in solchen Momenten schwer, zwischen einer subjektiven und einer objektiven Schuld zu unterscheiden. Oft glauben sie, für alles verantwortlich zu sein, was ihnen der Narzisst vorwirft – selbst für die Umstände, für die sie wirklich nichts können. Sie fühlen sich sofort für alles schuldig, sobald sie von dem Narzissten darauf angesprochen werden. Die vorschnelle Bereitschaft, jegliche Last auf sich zu nehmen, ohne zuvor die eigene Verantwortung dabei überprüft zu haben, nutzt der Narzisst gerne aus und Betroffene sind froh, wenn sie das belastende Gefühl der Schuld wieder loswerden, indem sie dem Narzissten folgen.
Außerdem macht sich der Narzisst die Ängste seines Gegenübers zunutze, indem er mit seinen Argumenten auf die Schwachstelle des anderen zielt: Die Angst vor dem Verlassenwerden, vor Bloßstellung, vor dem Versagen. Betroffene können dieses Angstgefühl nicht aushalten und wollen so schnell wie möglich wieder in den Zustand der emotionalen Sicherheit zurückkehren. Je schneller sie sich dann auf die Forderungen des Narzissten einlassen und seinen Regeln folgen, desto schneller werden sie das Angstgefühl wieder los. Auf diese Weise erreicht der Narzisst sein Ziel.
Verheerende Folgen
Leiten Personen mit narzisstischen Strukturen eine Gemeinschaft, kann ein riesiges Gefüge aus Narzissmus und Co-Narzissmus entstehen. Die Mitglieder lassen sich vom Narzissten blenden und bewundern ihn für seine Grandiosiät, unterwerfen sich seinen Ansprüchen und lassen sich als Spielball benutzen. Sie geraten in eine gefährliche Abhängigkeit, auf der keine Augenhöhe möglich ist. Co-Narzissten erkennen meist erst viel zu spät – wenn überhaupt – welch böses Spiel mit ihnen und ihren Gefühlen getrieben wird. Da sie in jedem Menschen das Gute sehen, ist es für sie unvorstellbar, dass jemand so egoistisch und eigennützig sein kann und ihre Aufopferung missbraucht. Sie leiden langfristig unter den Folgen des emotionalen Missbrauchs. Wenn jemand über Jahre hinweg emotionaler Misshandlung ausgesetzt ist, können sich folgende Leiden entwickeln:
- sozialer Rückzug
- verringertes Selbstwertgefühl
- Schlafstörungen
- Essstörungen
- Konzentrations- und Leistungsschwierigkeiten
- Ängste
- Depressionen
Co-Narzissmus wird oft mit einer Co-Abhängigkeit verglichen, bei der Angehörige von Suchtkranken das Fehlverhalten der Abhängigen ausbügeln. Sie lügen und vertuschen die Realität, um nach außen hin den Schein zu wahren. Ebenso verbleiben Personen mit co-narzisstischen Strukturen meist viel zu lange im toxischen System und versuchen es aufrechtzuerhalten. Oft erst wenn sie unter der Last zusammenbrechen und sich Hilfe von außen holen, wird ihnen bewusst, was mit ihnen geschehen ist.
Quellen:
- Butenkemper, Stephanie (2023): Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch erkennen, verhindern und heilen. Herder.
- Grüttefien, Sven: Umgang mit Narzissten. Unorthodoxe Tricks und Strategien.
- Co-Narzissmus: Abhängigkeit statt echter Liebe | sinnsucher.de