Blog #10: Die 9 Phasen der Heilung von Geistlichem Missbrauch

Der Vergangenheit den Rücken kehren und entschlossen nach vorne blicken: Ist dies nicht die beste Strategie im Umgang mit spirituellem Missbrauch? „Warum sich noch einmal mit den erlittenen Verwundungen beschäftigen und „alte Wunden lecken“?“ mag manch eine/r denken. Doch Sektenfachleute berichten, dass es der Personengruppe, die ohne Begleitung und Hilfe aus den religiös missbräuchlichen Erfahrungen aussteigt und ihre Erlebnisse nicht bearbeitet, im Durchschnitt später am schlechtesten geht. Das Erlebte ist Teil der Lebensgeschichte und will verstanden und eingeordnet werden. Für diesen Prozess ist es notwendig, eine Zeit lang nochmals genau hinzuschauen, was geschah.

Spiritualisierter Machtmissbrauch richtet bei den Betroffenen immensen Schaden an: körperlich, seelisch-emotional, in der Beziehungsfähigkeit und der Gottesbeziehung, insbesondere wenn die betroffene Person lange in einem missbräuchlichen Kontext bzw. System gelebt hat. Peter Hundertmark geht sogar so weit zu sagen, dass, wenn der/die Betroffene mit guter Unterstützung intensiv daran arbeitet, es etwa so lange für eine Gesundung braucht, wie die Person dem Missbrauch ausgeliefert war. Schnelle Erfolge sind also nicht zu erwarten.

Hundertmark beschreibt in seinem Artikel „Etappen eines Gesundheitsprozesses nach spiritualisiertem Machtmissbrauch“ gewisse Regelmäßigkeiten in der Aufarbeitung und Gesundung, selbst wenn diese höchst individuell verlaufen. Sowohl für Betroffene als auch für Begleitende kann es hilfreich sein, um diese zu wissen, wenn sie auch nicht immer in dieser Reihenfolge aufeinanderfolgen.

Häufig ist der spiritualisierte Machtmissbrauch weder den Betroffenen noch den Täter/innen bewusst. Alle meinen, aufrichtig nach Gottes Willen zu suchen und ein tiefes geistliches Leben zu führen. Betroffene identifizieren sich meist rückhaltlos mit dem missbräuchlichen System, seinen Werten und Handlungsweisen.

Doch es entsteht Leid, das zuerst ignoriert, dann spiritualisiert wird. Wird im System nicht ausreichend Hilfe gefunden, wenden sich Personen oder auch ihre Verantwortlichen schließlich nach außen. Und genau hierin liegt die Chance für den Beginn eines Gesundungsprozesses. Welche Schritte dieser Weg beinhalten kann, möchte ich im Folgenden näher ausführen.

1. Leiden

Die leidende Person identifiziert sich in dieser Phase noch ganz mit dem Tätersystem. Das, was ihr schadet, hält sie durch die anhaltende Manipulation für das Richtige. Oft werden Spiritualisierungen als Erklärung angeführt wie: „Das ist von Gott anvertraut“ oder „Ich habe nicht genügend gebetet und an die Hilfe Gottes geglaubt.“

Bei Begleitenden bedarf es in dieser ersten Phase viel Geduld und Bereitschaft zur Solidarität. Denn die leidtragende Person ist jetzt noch nicht bereit, sich von den schädlichen Einflüssen des Systems zu distanzieren. Jetzt schon den Missbrauch aufdecken und analysieren zu wollen, könnte sogar schaden, da die Bindung an das missbräuchliche System auch eine stabilisierende Wirkung hat. Daher geht es zunächst darum, eine solide Beziehung sowie ein unterstützendes Umfeld, etwa durch medizinische Hilfe, aufzubauen. Dadurch werden erste Erfahrungen von Selbstwirksamkeit möglich. Allmählich kann das Leid näher in den Blick genommen werden und die unangebrachten Erklärungsmuster kritisch hinterfragt werden.

2. Identifikationsbruch

Erst nach dem Aufbau von genügend Stabilität und Sicherheit können einzelne Personen des Systems in Frage gestellt werden. Dabei werden schädigende Komponenten und Fehlentwicklungen klar benannt. Dadurch erfährt der/die Betroffene, dass die Schuld nicht bei ihm/ihr liegt, sondern in Teilen des Systems.

Ein weiterer Schritt ist, zu verstehen, dass nicht nur Einzelne sich falsch verhalten haben, sondern der Missbrauch das gesamte System durchzogen hat. Dadurch wurden gewissermaßen alle zu Täter/innen, die Manipulation und Gewalt eingesetzt haben, in der Meinung, im Sinne Gottes zu handeln. Der Missbrauch wurde normal.

In dieser Phase beginnt die Identifikation mit dem missbräuchlich agierenden System brüchig zu werden. Dies kann viel Zeit in Anspruch nehmen.

3. Benennen

Jetzt erst sucht der/die Betroffene nach Worten, die ausdrücken, was er/sie im missbräuchlichen Kontext erfahren hat. Der/die Begleiter/in bietet Begriffe an und ergründet mit dem/der Betroffenen, wie das Geschehen angemessen benannt werden kann. Hierbei handelt es sich etwa um Begriffe wie: Grenzverletzung, Unterdrückung, Gewalt, Übergriff, Ausbeutung und Machtmissbrauch.

Wenn dem/der Betroffenen bewusst wird, wie schwerwiegend der erfahrene Missbrauch war, weckt dies bislang unterdrückte Aggressionen, die sich auch in der Kommunikation niederschlagen und nicht selten gegen den/die Begleiter/in richten. Für die begleitende Person ist es in dieser Phase sehr wichtig, ganz auf der Seite des/der Betroffenen zu bleiben und sich gegen das missbräuchliche System zu positionieren. Die hervortretenden Aggressionen sind gut und wichtig auf dem Weg zur Gesundung, auch wenn sie sich möglicherweise gegen die falsche/n Person/en wenden.

Der/die Begleiter/in sollte sich in einer guten Supervision mit den erlebten Aggressionen auseinandersetzen, um nicht gegenaggressiv auf den/die Betroffene/n zu reagieren.

4. Entmystifizieren

Nach dem Benennen beginnt oft eine geradezu fieberhafte Zeit, in der der/die Betroffene zu verstehen sucht, was ihr/ihm im missbräuchlich agierenden System widerfahren ist. Besonders die Merkmale für totalitäre Systeme von Robert Lifton können hilfreich sein, um die Tiefe der erfahrenen Manipulation zu erfassen (siehe Blog #5: Spirituelle Manipulation – der Giftstachel geistlichen Missbrauchs).

Nicht selten verlieren Betroffene in dieser Phase ihren „Glauben“, da sie die erlebte spiritualisierte Manipulation nicht von einem menschenfreundlichen und heilsamen Glauben unterscheiden können. Oft ist dieser Verlust notwendig, um sich von dem Erlebten zu distanzieren. Mit dem Aufbau eigener Werte und dem Hören auf die innere Wahrnehmung kann allmählich wieder Halt in sich selbst gefunden werden und dadurch vielleicht der Boden für einen neuen, „gesunden“ Glauben gelegt werden.

Diese Phase kann sehr schmerzhaft sein. Der/die Begleiter/in sollte gegebenenfalls die Person ein wenig bremsen, falls die gewonnenen Erkenntnisse zu schwer zu verkraften sind und die mühsam erworbene Stabilität bedrohen.

Außerdem dürfen die Begleiter/innen den „Glaubensverlust“ nicht abzuwenden suchen, da der ehemalige Glaube der Betroffenen meist nicht auf dem Glauben der Kirche und der Bibel beruhte. Vielmehr sollen sie die Perspektive eines lebensfördernden Glaubens und eines wohlwollenden Gottes anbieten. Den Betroffenen sollten sie in dieser Etappe keinesfalls geistliche Übungen jedweder Art empfehlen, um nicht Falsches zu reaktivieren und dadurch Schaden anzurichten. Dessen ungeachtet dürfen sie sich mit ihrem geistlichen Leben zeigen, ohne dieses aufdrängen zu wollen.

5. Entängstigen

Wenn die bisherigen Gewissheiten, Überzeugungen und Praktiken wegbrechen, kann sich dies sehr bedrohlich anfühlen. Die Frage nach der eigenen Identität und der Erlaubnis, lange Zeit Geglaubtes abzulegen, stellt sich zwangsläufig. Ein stützendes Umfeld und die normalen Alltagsabläufe, die mittlerweile etabliert wurden, helfen, existentielle Ängste zu bewältigen.

Der/die Begleiter/in sollte in dieser Phase die Selbstzweifel entdramatisieren und einordnen helfen. Eine mögliche Suizidgefährdung gilt es im Blick zu haben und immer wieder abzufragen. Hundertmark empfiehlt, erst in der Phantasie, dann auch in der Realität zu versuchen, manche bislang unter innerem Zwang ausgeführte Gebete in kleinen Schritten wegzulassen, die inneren Regungen dabei zu beobachten und mit dem/der Begleiter/in nachzubesprechen. Allmählich erfährt die betroffene Person, dass auch ein Leben „ohne“ und „gegen“ gelingend gelebt werden kann.

6. Enttarnen

Nach einer inneren Loslösung vom manipulativen System beginnt eine Etappe, während derer dem/der Betroffenen viel daran gelegen ist, andere Menschen vor dem eigenen Schicksal zu bewahren und den Missbrauch offenzulegen.

Dabei sollten Täter/innen keinesfalls face-to-face konfrontiert werden, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass diese mit Abwehr reagieren und schwere Schädigungen beim Opfer hervorrufen.

Es kann zu massiven Gegenreaktionen vom missbräuchlichen System kommen, die von Verleumdung, rechtlichen Schritten, Beschädigung der Glaubwürdigkeit der Person bishin zu sozialer Ausgrenzung reichen können. Während dieser Phase braucht der/die Betroffene alle Unterstützung des Umfelds und der begleitenden Personen.

7. Gerechtigkeit fordern

Häufig erwacht nach dem Enttarnen das Bedürfnis, für das eigene erlittene Unrecht Gerechtigkeit zu erfahren. Dieses kann vom Wunsch nach einer Anerkennung des Leids, einer Wiedergutmachung, einer Verurteilung der Täter/innen über eine Beendigung des missbräuchlichen Systems reichen. Leider geht das säkulare Recht immer noch davon aus, dass erwachsene Personen sich missbräuchlichen Kontexten selbst entziehen können.

Die Arbeitshilfe der deutschen Bischöfe zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch hingegen macht Hoffnung, dass Geistlicher Missbrauch in Zukunft zur Straftat wird, die dann entsprechend geahndet werden kann. Es bleibt zu wünschen, dass es einmal auch einen finanziellen Ausgleich für die entstandenen Schädigungen geben wird, ähnlich wie dies bei sexuellem Missbrauch der Fall ist.

Jeder Versuch, Gerechtigkeit zu erlangen, holt den/die Betroffene/n aus der Opferrolle und verleiht Handlungsmacht. Dadurch wird die innerlich immer noch gefühlte Macht der Täter/Täterinnen gebrochen. Das ist für die psychologische Aufarbeitung sehr wichtig.

Der/die Begleiter/in wird daher ermutigen, Gerechtigkeit zu suchen, ohne dabei zu viel Hoffnung auf Erfolg zu machen. Er/Sie hilft durch konkreten Beistand und im Mitbetroffensein, die Erfahrung auszuhalten, sollte keine Gerechtigkeit erlangt werden können.

8. Akzeptieren

Gegen Ende des Prozesses, nach vielen Schritten der Auseinandersetzung und Aufarbeitung, gelingt es Betroffenen vielleicht, allmählich in eine Haltung der Akzeptanz zu kommen. Keineswegs eine Akzeptanz des Missbrauchs oder der Täter/innen, sondern die innere Zustimmung, dass die Erfahrungen spiritualisierten Machtmissbrauchs Teil der eigenen Geschichte sind. Eine solche Haltung entsteht in der Tiefe der Seele und sollte durch den/die Begleiter/in nie aktiv angestrebt werden.

Die Erfahrung, dass sich der Person trotz des Missbrauchs viele Gestaltungsmöglichkeiten im Leben eröffnen und das Bewusstsein, durch die Aufarbeitung stärker und selbst-bewusster geworden zu sein, können dazu beitragen.

Haben Betroffene den Wunsch, ihren Täter/innen zu vergeben, sollten Begleiter/innen zunächst kritisch sein. Eine vorschnelle Vergebung würde weder den Betroffenen und ihrem Leid gerecht, noch wäre es recht für die Täter/innen und Verantwortlichen, wenn diese nicht zu ihren Taten stehen.

Erst einmal kann es für Betroffene sehr sinnvoll sein, sich selbst zu vergeben, dass sie in den missbräuchlichen Kontext hineingeraten sind und nicht in der Lage waren, sich zu schützen.

Möglicherweise stellt sich dann auch eine Vergebung ein, die auf die fehlende Genugtuung verzichten kann und doch echt und geerdet ist. Das ist dann nicht mehr Menschenwerk und kann nicht „hergestellt“ werden. Hierfür braucht es einen langen Weg der Aufarbeitung und der Akzeptanz, der zuvor gegangen werden muss.

9. Gesunde Spiritualität

Erst wenn der innere Abstand zum missbräuchlichen System groß genug und eine gewisse Akzeptanz der eigenen Erfahrungen erreicht ist, ist der Boden für eine neue, selbstbestimmte Spiritualität gelegt. Wenn die betroffene Person dies möchte, kann sie nun beginnen, sich einen neuen, lebensförderlichen Glauben aufzubauen.

Geistliche Begleiter/innen müssen dabei darauf achten, dass der/die Betroffene im Zuge dessen nicht wieder in missbräuchliche Glaubensformen zurückfällt, wofür es eine gute geistliche Unterscheidung braucht. Dadurch kann ein sicherer Grund im Glauben gelegt werden und ein positives, wohlwollendes Gottesbild entstehen. Eine Theologie, die dem Leben Hoffnung und Freude gibt, tritt dann an die Stelle der bedrückenden, leistungsorientierten Formen des spirituellen Missbrauchs.

Auch wenn dieses Phasenmodell auf den ersten Blick in sich schlüssig erscheint, ist die Auseinandersetzung mit Geistlichem Missbrauch in Wirklichkeit oft wesentlich komplizierter. Neben einer geistlichen Aufarbeitung kann auch therapeutische Unterstützung vonnöten sein, falls psychische Beeinträchtigungen vorliegen. Der Weg der Aufarbeitung besteht aus harter Arbeit und muss vielleicht immer wieder unterbrochen werden, da nicht genügend Kraft für den nächsten Schritt vorhanden ist. Manche Personen bleiben mitten auf dem Weg stecken, werden zurückgeworfen oder kehren gar wieder ins Missbrauchssystem zurück. Diese Arbeit birgt große Chancen in sich, kann aber oft Jahre in Anspruch nehmen.

 

Quellen:

Tempelmann, Inge (2015): Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt, SCM-Verlag

Hundertmark, Peter: Etappen eines Gesundungsprozesses nach spiritualisiertem Machtmissbrauch, www.geistlich.net

 

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