Blog #2: 13 Merkmale spirituellen Missbrauchs

Wie ein Fisch im Wasser

Viele Jahre lang hatte ich mitten im spirituellen Missbrauch gelebt, war mir dessen aber in keinster Weise bewusst. Vielmehr war ich stolz darauf, Teil einer besonders begnadeten Gemeinschaft zu sein. Es verlieh mir Würde, eine „große Berufung“ zu haben und von Gott ganz besonders auserwählt zu sein. Meinen Mitschwestern und -brüdern fühlte ich mich innig verbunden, denn wir alle verfolgten das eine große Ziel: heilig zu werden. In jedem Moment war ich gewiss, Gottes Willen vollkommen zu erfüllen, wurde er mir ja durch meinen heiligmäßigen Seelenführer und Leiter der Gemeinschaft jeweils mitgeteilt. Das gab mir viel Sicherheit, und in der familiären Atmosphäre der Vereinigung fühlte ich mich geborgen.

Die geistigen Unterweisungen nahm ich mit großem Eifer auf, und ich begann immer mehr geistliche Zusammenhänge zu verstehen. Alles ergab einen Sinn, und für alles gab es eine spirituelle Erklärung.

Ging es mir schlecht, hing es damit zusammen, dass ich zu wenig betete oder zu wenig bereit war, Opfer zu bringen, oder dass ich mich selbst zu wichtig nahm und eigenwillig war. Wenn ich dann aus ganzem Herzen bereute und Gott um Verzeihung bat, schenkte er mir seine übergroße Barmherzigkeit. Alles schien perfekt und in sich stimmig. Zunächst.

Gefangen im Netz

Ich merkte nicht, wie ich anfing, auf andere herabzublicken, die nicht so viel beteten oder nicht so ein tiefes geistliches Leben führten wie wir. Wie ich aufhörte, eine eigene Meinung zu haben und nur noch die Meinung der Gemeinschaft übernahm. Außerdem fühlte ich mich oft schuldig, da ich den sehr hohen Anforderungen häufig nicht gerecht wurde. Das bedrückte mich vermehrt. In meinem Denken wurde ich immer enger und verlor zunehmend meine innere Freiheit. Gefühle und Bedürfnisse drückte ich weg, da uns das so gelehrt wurde. „Man muss nur wollen!“, sagte man uns. Ich misstraute meiner eigenen Wahrnehmung und richtete mich nur noch nach den Anweisungen der Verantwortlichen. Nach und nach verlor ich mich selbst aus dem Blick, war „nicht mehr ich“. Bei mir brauchte es erst einen völligen Zusammenbruch, um zu merken, dass in dem System, in dem ich lebte, etwas nicht stimmte.

Erkennungsmerkmale spirituellen Missbrauchs:

Wie ist es nun möglich, spirituellen Missbrauch möglichst früh zu erkennen? Vorsicht gilt bei folgenden Merkmalen:

  1. Eine Person oder Gruppe gibt vor, Gottes Willen für mich zu verstehen.
  2. Leitende Personen haben gleichzeitig auch noch die geistliche Begleitung bzw. Seelenführung der Mitglieder inne.
  3. Die Gruppe suggeriert, eine einzigartige Auserwählung von Gott und eine besondere Aufgabe für die „Rettung der Welt“ zu haben.
  4. Es wird verlangt, über die eigenen Kräfte hinaus zu arbeiten, was zu physischen und psychischen Zusammenbrüchen führt.
  5. Eigene Gefühle und Bedürfnisse spielen keine Rolle.
  6. Persönliche Fähigkeiten und Begabungen liegen brach.
  7. Es herrscht Schwarz-weiß-Denken, d. h. es gibt auf der einen Seite die „Guten“ und auf der anderen die „Schlechten“. In dieses Raster werden alle Menschen und sogar die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft eingeordnet.
  8. Besonders in neuen geistlichen Gemeinschaften besteht die Gefahr der geistlichen Verherrlichung der Führungs- bzw. Gründerperson. Nicht selten wird ihr Wort über Gottes Wort gestellt.
  9. Durch klare Vorgaben bei der Lektüre wird eigenes Denken eingeschränkt.
  10. Es herrscht mangelnde Zusammenarbeit mit anderen Gemeinschaften innerhalb der Kirche.
  11. Exerzitien sind auf die eigene Gemeinschaft beschränkt.
  12. Mitglieder, die in diesem System versagen, werden erniedrigt.
  13. Zu „Aussteigern“ soll kein Kontakt gepflegt werden.

Sollte bei Ihnen einer oder sogar mehrere Punkte zutreffen, ist es ratsam, Kontakt zu einer externen erfahrenen Person aufzunehmen, um sich eine unabhängige Meinung bilden und gegebenenfalls Hilfe in Anspruch nehmen zu können.

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